Als die Gegenwart begann
Alf Mayer über einige Bücher und den Nährboden des modernen Kriminalromans nach dem Zweiten Weltkrieg.
Tobias Kühne: Das Netzwerk „Neu Beginnen“ und die Berliner SPD nach 1945. Berliner Beiträge zur Ideen- und Zeitgeschichte, Band 2. Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2018. Hardcover, 504 Seiten, 35 Euro. Verlagsinformationen.
Elisabeth Åsbrink: 1947. Als die Gegenwart begann (1947, 2016). Aus dem Schwedischen von Hedwig M. Binder, Verlag btb, München 2018. Taschenbuch, 256 Seiten, 10 Euro.Verlagsinformationen.
Wolfgang Brenner: Die ersten hundert Tage. Reportagen vom deutsch-deutschen Neuanfang. Herder Verlag, Freiburg 2018. 288 Seiten, 24 Euro.Verlagsinformationen.
Christian Bommarius: 1949. Das lange deutsche Jahr. Droemer, München 2018. 320 Seiten, 19,99 Euro.Verlagsinformationen.
Felix Bohr:Die Kriegsverbrecherlobby: Bundesdeutsche Hilfe für im Ausland inhaftierte NS-Täter. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 588 Seiten, 28 Euro. Verlagsinformationen.
Birgit Lahann: „Wir sind durchs Rote Meer gekommen, wir werden auch durch die braune Scheiße kommen.“ Schriftsteller in Zeiten des Faschismus. Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2018. Klappenbroschur, 312 Seiten, 24 Euro. Verlagsinformationen.
„Neu Beginnen“ – Das war Programm von Anfang an
„Der Kriminalroman und sein Detektiv sind nur in einer Welt möglich, die nicht der Allgewalt des Staates, der Gestapo oder des NKWD ausgeliefert ist. In einem Polizeistaat ist ein Sherlock Holmes selbst als literarische Figur undenkbar.“ Der Widerstandskämpfer, Exilant, Journalist und Verleger Karl Anders schrieb das 1952 im Heft 5/6 von „Bücherei und Bildung“ den deutschen Bibliothekaren ins Stammbuch. Und weiter: „Der Nationalsozialismus handelte durchaus logisch, wenn er den Kriminalroman als politisch gefährlich ablehnte.“ Karl Anders gehörte zu denen, die unter Einsatz des eigenen Lebens zum Ende der Nazi-Zeit beigetragen hatten, auf dem Feld der Kriminalliteratur aber hatte er es – allen neu errungenen Freiheiten zum Trotz – lebenslang mit dem Dünkel der Bibliothekare und des Feuilletons zu tun. Der wirkt bis heute nach. Dennoch: So viel Anfang wie nach dem Zweiten Weltkrieg war nie. Auch wenn all die hier gleich besprochenen Bücher nicht explizit mit Kriminalliteratur zu tun haben, so beschreiben sie doch Nährboden und Zeitläufe, auf denen der moderne Kriminalroman gediehen ist.
Karl Anders selbst – der Hammett, Chandler, James M. Cain (siehe auch den Klassiker-Check in dieser CrimeMag-Ausgabe) und Eric Ambler ins Nachkriegsdeutschland brachte – kommt namentlich nicht vor in Tobias Kühne großer Studie „Das Netzwerk ‚Neu Beginnen’ und die Berliner SPD nach 1945“. Auch sein Verlag wird nicht mit Namen genannt, obwohl das von ihm verlegte Buch „Jenseits des Kapitalismus. Eine sozialistische Bestandsaufnahme“ von Paul Sering (Richard Löwenthal) ausführlich diskutiert wird. Eine halbe Million Vorbestellungen und viel zu geringe Papierzuteilung gab es dafür im Frühsommer des Jahres 1948.
Von Berlin aus gesehen – und das ist der Fokus dieser sehr lesenswerten Studie – war Kurt Wilhelm Naumann aus dem Wedding, der sich als Exil-Radiofigur Karl Anders nannte, von den Nürnberger Prozessen für den Deutschlandsender der BBC berichtete, Verleger des Nest-Verlags und der Krähen-Bücher war und in den frühen 1960ern Wahlkampfleiter von Willy Brandt wurde, wohl eine Nebenfigur. Aber das gilt auch für Waldemar von Knoeringen und andere nach 1945 nicht hauptsächlich in Berlin, sondern in anderen Teilen Deutschlands am Wiederaufbau eines demokratischen Staates beteiligten Mitglieder der Gruppe „Neu beginnen“. Der Fokus des Buches von Tobias Kühne ist Berlin.
Die sei eine „eine marxistische Organisation des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus“ gewesen, verkündet Wikipedia. Tatsächlich nannte „Neu Beginnen“ sich in den Anfängen auch Leninistische Organisation (ORG oder LO) oder Miles-Gruppe (nach dem britisch angehauchten „Spitznamen“ eines der Gründer, Walter Loewenheim. Tatsächlich entstand sie 1929 als ein Vertrauensnetzwerk, notwendigerweise konspirativ – schließlich geschah das im Widerstand gegen das schnell erstarkende Nazi-Regime – und wurde, bedingt durch die vielen Exil-Schicksale, bald schon transnational. Ihre Mitglieder: oppositionelle Kommunisten und wenig später auch sozialdemokratische Jugendfunktionäre. Ihre ideologische Klammer war vor allem die Hoffnung auf die Abwehr des Nationalsozialismus durch eine geeinte Arbeiterbewegung. Erreicht werden sollte dieses Ziel durch ein konspiratives Eindringen in die Parteiapparate von SPD und KPD. Das war zwar bald schon Geschichte, die Konspirativität aber bewährte sich im antifaschistischen Kampf.
Die Internationalität bliebt Haltung, Hazel Rosenstrauch hat das jüngst in unserem „Verlust-Special“ schön beschrieben. Bei Karl Anders, der mir über Jahre aus seinem Leben erzählte, konnte ich immer das genießen. (Sein CulturMag-Porträt „Anarchist, Kommunist, Widerstandskämpfer, Sozialist …“ hier.) Leute diesen Schlages waren es, die ein Deutschland aus den Ruinen entstehen ließen, in dem wir Nachgeborenen uns einrichten konnten und eingerichtet haben.
Beeindruckend an Tobias Kühnes zeitgeschichtlicher Studie ist die Auffächerung vieler Biografien. Differenziert, materialreich und anschaulich geht er der Frage nach, weshalb viele Mitglieder von „Neu Beginnen“ in der Nachkriegszeit zu den Reformern gehörten, die die Umwandlung der Sozialdemokratie von einer Klassenpartei in eine linke Volkspartei anstrebten, und weshalb sie wiederum zu jenen Kräften innerhalb der Berliner SPD gehörten, die sich später vehement gegen gesellschaftliche Veränderung wandten. Sie waren zwar Unterstützer vor allem Willy Brandts, stellten sich jedoch nicht mehr auf die neue Ostpolitik ein. (Vielleicht saß die Erinnerung an die Jahre der Selbstzerfleischung und der stalinistischen Schauprozesse doch noch zu dicht unter der Haut.)
„Leute von Neu Beginnen wurden Manager von deutschen Gewerkschaften, Krankenkassen, Parteizeitungen, Genossenschaftsbanken; oder sie wurden Universitätsprofessoren, Bundestagsabgeordnete, Staatssekretäre. In recht genauer Kenntnis der Tatsache schätze ich, dass ein Viertel des deutschen ‚Establishments’ – Staatsapparat, Presse, Rundfunk, Universitäten, politische Parteien – das Erbgut von Neu Beginnen geworden ist“, zitiert Tobias Kühne den nach linker Vergangenheit konservativ gewordenen Publizisten William S. Schlamm von 1977.
Von Stockholm bis Kairo und Dehli
„Als die Gegenwart begann“ lautet der Untertitel von Elisabeth Åsbrink schönem schlanken Buch „1947“. Von Schweden aus betrachtet, aber eben nicht nur, längst nicht nur, erlaubt sie einen Blick auf die damalige Unbehaustheit Europas. Am Anfang nennt sie nur nüchterne Zahlen: In Großbritannien über 4,5 Millionen Gebäude von rund 50 000 Tonnen Bomben beschädigt, in der Wiener Neustadt von 40 000 Gebäuden noch 18 intakt, in Frankreich 460 000 Gebäude zerstört, in der Sowjetunion 1700 Kleinstädte und Dörfer dem Erdboden gleichgemacht, in Griechenland 1000 Dörfer niedergebrannt, in Deutschland rund 3,6 Millionen Wohnungen zerbombt, in Berlin die Hälfte der Behausungen unbewohnbar, 18 Millionen Deutschen obdachlos.
Elisabeth Åsbrink erzählt in vielen Vignetten, die zwischen Malmö, Nürnberg, Frankfurt, Washington, London, Dehli, Rom, Marseille, Genf, New York, Kairo, Jerusalem, Buenos Aires, Berlin, Stockholm und vielen anderen Orten pendeln, wie überall die Uhren neu gestellt werden. Wie eine Welt, die den Begriff Völkermord noch nicht kennt, mit Vergangenheit und Gegenwart, mit Erinnerung, Schuld und Vergessen umzugehen lernt. Wie unvollständig das ist, wie feige und mutig, wie klein und wie groß. Quer über den Globus sammelt sie die Splitter dieses Jahres auf – Eleanor Roosevelts Plan von der ersten Menschenrechtskommission, Christian Diors erste Kollektion. Grace Hoppers neu entwickelt Computer-Programmiersprache, Chuck Yeager und die durchbrochene Schallmauer, Simone de Beauvoirs Liebe zu Amerika, die Gründung der CIA, das Ende des Britischen Empires, der Umgang Großbritannien mit der „Exodus“-Krise – Wurzel heutiger Antisemitismusdiskussionen in Großbritannien, und nicht nur dort.
Es ist keine heile Welt, in die Åsbrink uns entlässt, kein Happyend. Sie sammelt die Splitter einer zu Boden gefallenen Uhr. „Nicht die Zeit soll zusammengehalten werden, sondern ich, und die zersplitterte Trauer, die wächst und wächst. Die Trauer über die Gewalt, die Scham über die Gewalt, die Trauer über die Scham.“ – Ist das mein Erbe, meine Arbeit?, fragt sie sich am Ende. „Scham zu sammeln? Von Gewalt vergiftetes Grundwasser?“
Zweimal das Jahr 1949
Gleich zwei Bücher bringen uns ins Jahr 1949. Wolfgang Brenner sammelt in „Die ersten hundert Tage. Reportagen vom deutsch-deutschen Neuanfang“, Christian Bommarius führt durch „1949. Das lange deutsche Jahr“.
Wolfgang Brenners Reportage „Krieg im Zoo. Der Fall Grzimek“ beginnt wie eine Kriminalgeschichte. Es geht um vielfachen Mord, „für Angaben, die zur Ermittlung des Täters und seiner Helfershelfer führen“ ist die mit 30.000 Mark bis dahin in Deutschland höchste Belohnung ausgesetzt. „Seit 29. Dezember 1947 sind 44 wertvolle Tiere des Frankfurter Zoologischen Gartens von unbekannten Tätern vergiftet worden. Hierdurch ist nicht nur ein erheblicher finanzieller Schaden für die Stadt entstanden, auch alle Tierfreunde sind über diese Untaten bekümmert …“ Begonnen hatte es mit einem Zebra, es folgte ein Elefant, dann 30 Fasane und Papageien auf einen Schlag, wenig später fünf Nutrias, gleichzeitig ein Rehbock. 100 Tiere werden es, bis der Täter gefasst wird.
Der hat politische Motive. Den durch seine Tierkolumnen im „Illustrierten Blatt“ überregional bekannte Zoodirektor Dr. Bernhard Grzimek holt seine Nazi-Vergangenheit ein. Wolfgang Staudte wird den Fall verfilmen.
Die Deutschen sehnten sich auch 1949, schreibt Wolfgang Brenner, „nach der Ferne, der Exotik – und nach der Natur. Tiere standen hoch im Kurs. Tiere und Zoos. Deshalb war es kein Wunder, dass im jungen Deutschland ein Zookrieg ausbrach (einen anderen, in Berlin, beschreibt Bodo V. Hechelhammer hier####). Grzimek hat den Frankfurter Zoo mit 20 Tieren übernommen, die den Zweiten Weltkrieg überlebt hatten, innerhalb von zwei Jahren hatte er einen Bestand von 1000 Tieren und der Zoo schon drei Millionen Besucher im Jahr. Ein Wirtschaftswunder der besonderen Art.
Brenner schreibt auch über die Gladow-Bande in Berlin (1981 von Thomas Brasch in „Engel aus Eisen“ erzählt), über den UGO-Putsch in Ost-Berlin, über Rechtsradikale im Rathaus der VW-Stadt Wolfsburg, über illegale Urangeschäfte in Süddeutschland, über einen chinesischen Rauschgiftring in Hamburg und den verschwunden Berliner Polizeipräsidenten Paul Markgraf, über den Renault 4CV, der beinahe dem Käfer den Rand ablief, über Damenringkämpfe in Düsseldorf, über Helden der Arbeit und ihren Niedergang. Sex & Crime & Politik – Stoffe, vor die man noch viele Kutscher spannen kann. Brenner, selbst Autor von Kriminalromanen („Der Patriot“, „Die Exekution“. Die Bollinger-Reihe, „Stinnes ist tot“, „Honeckers Geliebte“) hat den Blick.
Ach, das nenne ich Geschichtsbuch
Durch das ganze Buch von Christian Bommarius schwingt – und das macht es so großartig und wichtig – die Schwierigkeit, Demokratie zu leben. 1949, im Jahr der doppelten Staatsgründung von ost- und Westdeutschland und des Beginns der zweiten Demokratie auf deutschem Boden, ist das ein risikobehaftetes Experiment. „Ausgerechnet auf den Ruinen des politisch, wirtschaftlich und vor allem moralisch bankrotten Deutschlands soll im Westen eine Demokratie nach westlichem Vorbild entstehen. Auch noch vier Jahre nach Kriegende stellen amerikanische Beobachter besorgt fest, dass die Deutschen aller Altersstufen nur geringe Fortschritte in Richtung auf ein demokratisches Denken gemacht“ hätten.
Bommarius versammelt Episoden aus Wirtschaft, Politik, Kultur und Alltagsleben, schweift vom Kanzleramt in die Provinz, vom Politischen ins Private, vom Allgemeinen ins Konkrete. Ach, hätten wir doch auch schon solche Geschichtsbücher gehabt.
Die ersten Bundestagswahlen mit Konrad Adenauer als Spitzenkandidat, Theodor Heuss als Bundespräsident, Bonn als Hauptstadt der Bundesrepublik, Wilhelm Pieck als Präsident der DDR, Otto Grotewohl Ministerpräsident. Das Buch setzt (wie auch das von Brenner) schon 1948 ein, als Währungsreform und Auftrag zur Verfassungsbildung die Weichen in Richtung Bundesrepublik stellen. Die Blockade West-Berlins 1948 durch die Sowjetunion dauert beinahe ein Jahr, die Stadt kann nur über eine Luftbrücke versorgt werden. Am Silvestertag 1948 landet bereits die hunderttausendste Maschine mit Versorgungsgütern. Über 700 000 Tonnen wurden in den letzten 180 Tagen eingeflogen.
„Meine Herren, wenn das an die Öffentlichkeit kommt, sind wir alle erledigt“, mit dieser Überschrift der „Frankfurter Rundschau“ vom 15. September 1949 beginnt der sogenannte „Offenbacher Skandal“. Es geht um die Berufung des jüdischen Frauenarztes Herbert Lewin aus Köln zum Chefarzt der städtischen Frauenklinik von Offenbach am Main. Der Magistrat der Stadt hatte erst für ihn gestimmt, dann gleich wieder abgewählt. Die Aufhebung des ersten Abstimmungsergebnisses wurde vom 2. Bürgermeister und Gesundheitsdezernenten so begründet: „Sie können den Offenbacher Frauen nicht zumuten, dass sie einem Mann wie Dr. Lewin ausgeliefert werden (…) der aus dem KZ kommt und dessen Familie (…) entweder vergast oder ermordet worden ist, der also mit den Ressentiments seiner Rasse und mit dem Rachegefühl des KZlers seine Arbeit antreten wird.“ Der Oberbürgermeister soll gesagt haben: „Sie entscheiden sozusagen über das Schicksal der Offenbacher Frauen (…) Sie können die Frauen Offenbachs und die Frauenklinik nicht einem Dr. Lewin anvertrauen.“ Der Fall schlägt bis ins Ausland Wellen. Übersehen wird, dass Lewin bereits in Köln Chefarzt gewesen war, er wird schließlich doch in Offenbach bestellt. Demokratie ist Arbeit. Dauernd. Das Buch ist schockvoll davon.
In einem schönen Nachwort schlägt Bommarius den Boden explizit in die Gegenwart. Deutschland musste sich 1949 abschaffen, um Demokratie zu werden. Hätten die Deutschen der Nachkriegszeit einen Einbürgerungsantrag stellen müssen, hätten sie schlechte Karten gehabt. „Denn wir Bundesbürger werden will, muss nicht nur wissen, wie man Menschenwürde, Demokratie, Rechtsstaat und Freiheit buchstabiert, Worte, die zum Grundwortschatz gehören, es müssen für ihn Wert sein, Teil seines Grundwertschatzes und seines Lebensalphabets. Wer Deutscher ist, kann grölen ‚Ausländer raus!’, kann vor der drohenden ‚Umvolkung’ der Deutschen warnen, kann für die Rehabilitierung des ‚Völkischen’ eintreten und den islamischen Teufel an die Wand malen. Deutscher sein kann also jeder Idiot.“ 1949 war das noch ein – langer – Weg.
„Aus heutiger Sicht irritierend“
Der ewige Wunsch nach einem Schlussstrich, auf dass die Jahre der Nazi-Zeit endlich doch zu einem Vogelschiss würden (Gauland), zieht sich von den unmittelbaren Nachkriegsjahren bis heute. Felix Bohr, der für sein Buch bewusst den in Wissenschaftskreisen als reißerisch empfundenen Titel „Die Kriegsverbrecherlobby“ gewählt hat, unternimmt in seiner Studie einen Längsschnitt von 1949 bis 1989. Sein Bild ist wenig schmeichelhaft. Mit Material aus 18 Archiven zeichnet er die Kriegsverbrecherhilfe der Nachkriegszeit im größeren historischen Rahmen der Erinnerungskultur nach, beschreibt die Verbindungen zwischen Geschichte, kollektivem Gedächtnis, öffentlichem Gedenken, Politik und Wirtschaftsinteressen, schont auch die Wissenschaft nicht. Das westdeutsche Engagement für die (bald nur noch wenigen) im Ausland inhaftierten NS-Täter war erschreckend beachtlich. Ganze Netzwerke von Kirchenverbänden, Diplomaten, Veteranenvereinigungen und einflussreichen Interessenvertretungen leisteten rechtliche und materielle Hilfe. Unterstützung für die Kriegsverbrecher wurde auf höchster politischer Ebene organisiert – während Opfer des Nazi-Regimes um gesellschaftliche Anerkennung und ein bisschen Entschädigung kämpfen mussten. Bald schon standen nicht mehr die Taten dieser Kriegsverbrecher, sondern deren Verurteilung und Strafe im Mittelpunkt.
Felix Bohr richtet einen umfassenden Blick auf ein bisher kaum bekanntes, geschweige denn dargestelltes Kapitel bundesdeutscher Vergangenheitspolitik. In seiner Schlussbetrachtung urteilt er, dass „die aus heutiger Sicht irritierend intensiven Hilfeleistungen“ nur nachzuvollziehen seine, wenn man die Geschichte der Bonner Republik „als ‚zweite Geschichte’ des Nationalsozialismus begreift. Die Debatten um die „saubere Wehrmacht“ gehören in diesen Kontext.
Sogar – und da schließt sich der Kreis zum hier anfangs vorgestellten Buch „Neu Beginnen“ – der von den Konservativen so gern als ‚Vaterlandsverräter’ geschmähte Widerstandskämpfer Willy Brandt und seine sozialliberale Regierung setzten sich unverhältnismäßig eifrig für deutsche Kriegsverbrecher ein. Lediglich fünf verbliebene Deutsche saßen zum Amtsantritt von Bundeskanzler Willy Brandt noch in Italien und den Niederlanden im Gefängnis: der SS-Mann Herbert Kappler, der als Kommandeur der Sicherheitspolizei für das Massaker in den Ardeatinischen Höhlen mit 335 toten Zivilisten gewesen war, sowie „Die Vier von Breda“ – Franz Fischer, Ferdinand Hugo aus der Fünten, Joseph (Jupp) Kotalla und Willy Lages -, die maßgeblich an der Ermordung der niederländischen Juden beteiligt gewesen waren. Hochrangige deutsche Politiker, unter ihnen die Bundeskanzler Brandt und Schmidt, setzten sich immer wieder für ihre Freilassung ein.
Und was war mit den Schriftstellern?
Dass gerade die Wortführer der „inneren Emigration“ sich im nationalsozialistischen Deutschland „kommod“ eingerichtet hatten und alles andere als verhinderte Widerstandskämpfer waren, das ist ein Thema bei Christian Bommarius. Birgitt Lahann macht daraus ein ganzes Buch – und wie das von Bommarius ist es als Geschichtswerk mustergültig. Die ehemalige „stern“-Reporterin (von dessen Gründung Bommarius berichtet) kann zupackend und auf den Punkt schreiben, hat ein feines Ohr für Zitate. Das bewies sie zuletzt mit Friedrich Nietzsche (CulturMag-Kritik hier), dass lässt sie jetzt dem deutschen Literaturbetrieb der Nazi-Zeit angedeihen, den Mitläufern und Mitmachern, den Vertrieben und Verbannten.
Dienstag, 8. Mai 1945. Ein warmer, sonniger Tag. Der Krieg ist vorbei. (Siehe auch die CulturMag-Besprechung von Alexander Kluges Buch „Erinnerungstechnisch Niemandsland: Die 1000 Augen des Doktor Kluge„.) Das Titelzitat von Birgit Lahann ist drastisch: „Wir sind durchs Rote Meer gekommen, wir werden auch durch die braune Scheiße kommen.“ Noch lange nach dem Krieg, der für so viele keine Befreiung war, will niemand etwas von den ungeheuren Verbrechen gewusst haben, schreibt sie am Ende. „Nichts gehört und nichts gesehen. Ahnungslos. Alle. Warum sollten sie auch etwas gewusst haben? Nicht mal die NS-Verbrecher wussten doch etwas.“
Ihr Buch beginnt mit einem Kapitel über die Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 in Berlin. Den „Flammen übergeben“ werden die Werke von Erich Maria Remarque, Alfred Kerr, Sigmund Freud, Theodor Wolff, von Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky, Karl Marx und anderen. Oskar Maria Graf wird übersehen, er beschwert sich öffentlich und fordert: „Verbrennt die Werke des deutschen Geistes! Er selbst wird unauslöschlich sein wie eure Schmach!“ Über 200 Schriftsteller erhalten Publikationsverbot, sie verlassen das Land. Andere wie Erich Kästner oder Heinrich Böll bleiben, andere passen sich an oder singen gar den Ruhm der neuen Machthaber, Brechts Freund Arnolt Bronnen etwa. Gerhard Hauptmann macht den Hitlergruß, um seine Privilegien nicht zu verlieren. Der Bühnenautor Hanns Johst schreibt: „Wenn ich Kultur höre, entsichere ich meinen Browning“. 1935 macht ihn das zum Präsidenten der Reichsschrifttumskammer. Ernst Toller erkennt: „Wer Masse aufwühlt, wühlt die Hölle auf.“
Am Ende war es, fasst Sebastian Haffner zusammen: „Hitler kam für die Deutschen immer von weither; erst eine Weile vom Himmel hoch; nachher dann, dass Gott erbarm, aus den tiefsten Schlünden der Hölle.“ Der Widerstandskämpfer Karl Anders, der für die deutsche BBC jeden Verhandlungstag von den Nürnberger Prozessen berichtet und daraus das – heute noch sehr lesbare Buch „Im Nürnberger Irrgarten“ macht, will in seinem Nest-Verlag all die verbotenen und verfemten Bücher seiner Exilfreunde veröffentlichen. Etwa die seines Freundes Oskar Maria Graf. Nur: diese Bücher finden im Nachkriegsdeutschland kaum Leser. Um seinen Verlag zu finanzieren und stabilisieren, verlegt Karl Anders Kriminalromane – nach Vorbild seines sozialistischen englischen Freundes Victor Gollancz, bei dem das bestens funktioniert. Aber in Deutschland passt das noch nicht, mit Kriminalroman und Demokratie. Ehrlich gesagt, scheitert Karl Anders mit seinem Modell. (Dazu ausführlicher hier.)
Alf Mayer
Vgl. auch: Wie viel weiter man im Nachdenken schon gewesen ist – von Thomas Wörtche.