Geschrieben am 1. Juli 2022 von für Crimemag, CrimeMag Juli 2022

Alf Mayer schaut Ellroys „LAPD ’53“

Der Fotografie das Verrückte zurückgeben

85 Tatort-Fotos aus dem Los Angeles des Jahres 1953, dazu 25.000 Worte von James Ellroy. Ein nahezu ideales Zusammentreffen von Autor, Gegenstand und Recherchelage.

Texte zu Fotografien, das ist oft herbeigeklaubtes Zeug, mühsam zur Deckung gebracht, übergestülpte Interpretationen. Dies aber ist ein Werk der Güte „Once in a lifetime“. Alexander Kluge würde wohl Kairos am Werk sehen, den richtigen Moment. „Kunst“ mache er als nächstes, lachte James Ellroy, als ich ihn im Frühjahr 2015 interviewte (siehe „Unterwegs zum Übermenschen“). Und er versprach: „A good book. Interesting.“

Das ist es. In der Tat. Leben und Sterben in L.A., „trouble in paradise“, wie Ellroy es nennt. 224 Seiten, die einen nicht unberührt lassen. Ich bin versucht zu sagen, es ist Ellroys schönstes Buch. Jedenfalls das mit der höchstgradigen Verdichtung, was bei einem Meister eben dieser Kondensatkünste wirklich etwas heißen will.

Der Klappentext lud im Original folgendermaßen zum Einsteigen: „Hola, all you hell-bent hermanos contemplating the purchase of this book. It’s like crack-cocaine, isn’t it? A new tome from James Ellroy, the Demon Dog of American literature, the corrupt king of L.A. writers, and the longtime lapdog/spokesdog for the LAPD. And this one is fantastically full of breathtakingly bravura official pix from the LAPD archive.“ – In der Übersetzung von Stephen Tree, der sich seit der „Underworld-Trilogie“ lustvoll der Mühe der Übertragung der Ellroy-Sprache ins Deutsche unterzieht, liest sich das so:

„Das hat was von Crack-Kokain, nicht wahr? Ein neuer Band von James Ellroy, dem Höllenhund der amerikanischen Literatur, voll mit atemberaubend offiziellen Bildern aus dem LAPD-Archiv. Wozu drum herumreden? Das Buch müsst ihr haben!“

James Ellroy, 1948 geboren, hatte sich vor/und/ oder während dieses Fotobandes in seinem Monumental-Roman „Perfidia“ auf neue und noch radikalere Weise seiner Obsession angenähert hat – der Stadt Los Angeles. Ein Zitat von Ross MacDonald, „Am Ende gehört er mir, der Ort meiner Geburt, und seine Sprache besitzt mich“, hatte er bereits 1992 seinem „White Jazz“ vorangestellt. Die Geschichte von Los Angeles, schreibt Ellroy in „LAPD ‘53“, ist die Geschichte des Los Angeles Police Departments. Polizisten, manche von ihnen korrupter und hartgesottener als jeder Gauner, interessierten ihn schon immer und bevölkern seine Romane. An einer Stelle im Interview mit ihm hatte ich damals tatsächlich zu schlucken. Zitat:

Eine Person muss ich noch anschneiden, da hatte ich etwas aufgeschnappt.
Frage: Über Captain William H. Parker in „Perfidia“, dieser reale Mann, der auch in „White Jazz“ und „L.A. Confidential“ vorkommt, haben Sie gesagt, das sei Ihr bisher bestes Selbstporträt?
Ellroy: Ja absolut. Das bin ich.
Frage: Der Polizeichef von Los Angeles?
Ellroy: Ja. Ich bin wie er.
Ich staune. Whiskey Bill William H. Parker III. Heilige Scheiße. Ellroy ist wirklich durchgeknallt.

Nun, also „LAPD ‘53“, im Jahr 2015 in den USA in hochwertiger Ausstattung im New Yorker Kunstbuchverlag Abrams erschienen. Jetzt liegt die deutsche Fassung vor, als im Format kaum einen Zentimeter verkleinerte Taschenbuchausgabe, das Papier nun matt, nicht mehr gestrichen. Ellroy muss im hiesigen Verlagswesen noch Fans, Freunde und Verteidiger haben. Entstanden ist das Buch aus Ellroys langjähriger Zusammenarbeit mit dem Los Angeles Police Museum, 2004 hatte es bereits „Scene of the Crime“ gegeben, nach Akten des LAPD. Das vorbildlich geführte Museum, das einzig städtische solcher Art, wird seit 2001 fulltime betrieben. Adresse: 6045 York Boulevard, die älteste überlebende Polizeistation der Stadt. Direktor Glynn Martin, der ein Vorwort beisteuert, und ein Dutzend Freiwillige halfen Ellroy dabei, sich auf das Jahr 1953 zu konzentrieren. Bei Durchsicht von zigtausenden Fotografien und Dokumenten hatte es sich als ausnehmend gut dokumentiert herausgestellt. Nicht nur zufällig gehört es zu genau jener Zeit, die Ellroy besonders interessiert – und die er in seinen nächsten Romanen tiefschürfend beackern will. Für jedes der 85 letztlich ausgewählten Fotos wurden Umstände und /oder Fall recherchiert, Log- und Tagebücher oder etwa das persönliche Pressealbum von Chief Walker zu Rate gezogen. Ellroy schuf aus all dem Material sein eigenes Narrativ.

Viele sind da. Allen voran Whiskey Bill Parker., „der größte Polizist des 20. Jahrhunderts“ (Ellroy). LAPD Chief 1950 bis 1966. Reformer. Reaktionär. Stadt-Bändiger. Progressiver. Lasterhaft, gottesfürchtig und fromm, an der Flasche hängend. Parker war Los Angeles ’53. Ein daumenzählender Bürokrat. Ein brillanter Rechtsanwalt. Ein harter Knochen, der um die Grenzen aggressiver Polizeiarbeit wusste. Einer, der zähneknirschend, aber aus besserem Wissen, bürgerliche Freiheiten verteidigte. Einer, der Chaos und Unordnung verabscheute. Hasste. Einer, der mit Korruption aufräumte und dafür moralische Korruption in Kauf nahm. Einer der wusste: Freiheit gibt es nicht umsonst.
Parker konnte Bürgerrechtler zur Weißglut bringen. Cops sind Cops. Er verteidigte, was sie taten. Bill Parker und das LAPD – „eine faschistische Besatzungsmacht“, wie Kritiker meinten? „Bullshit“, haute Ellroy damals beim Interview auf den Tisch. Verdammter Bullshit. Fuck you.
„All cops must feel free to kick ass.“
Amerikas provokanteste Stadt habe sich Amerikas provokanteste Polizei verdient, meinte Ellroy. Die Stadt so unersättlich wie das Verbrechen, das sich von ihr nährt. L.A. Noir.

Foto aus dem Buch © Ullstein/ LAPD Museum

Politisch korrekt ist Ellroy auch in diesem Bildband nicht. Aber er geht ran. Näher als viele. „This book is reactionary nostalgia. It says: ‚Look how we fucked it all up.‘“ 
Ein in sexueller Exstase sich selbst Erhängter schon in der Einleitung, samt Fotos, eine bei einem Raubüberfall erschossene Frau, ganz oft Polizisten am Tatort, wie zufällig auf dem Bild. 
Die Hände eines Mörders, blutig und aufgeschürft: „See those hands? They’re the hand of a killer. He killed a friend of his.“
Die Lippenstift-Botschaft eines Unterwäsche stehlenden jungen Einbrechers auf einem Spiegel. Ellroy dazu: „They should have fried his underaged untermensch ass!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!“ 
Ein Motorradpolizist auf seiner Maschine: „Check this motor officer out. The Lone Eagle. He’s proud.“
Porträts von Polizisten, Sergeant Harry Hansen etwa, „The Bloodhound“. 
Immer wieder Referenzen auf den Mörder Caryl Chessmann, und dann sein Exekutionsbefehl. Datiert vom gleichen Tag, an dem Joseph Wambaugh bei der LAPD Academy eintrat.
Über den lässt Ellroy nichts kommen. Der ist sein Schutzpatron. „Ehrerbietig“ widmet er die Bildbeschreibung eines von Cops erschossenen und dann lustig verkleideten Bankräubers (S. 150 ff.) „meinem gewichtigsten Mentor“. Dort heißt es:

„Schocker-Joe diente von 1960 bis 74 beim LAPD und hat danach den modernen Polizeiroman geschaffen. Ich streifte noch als Kleinganove durch die Stadt, als ich Joes frühe Bücher las: The New Centurions („Nachtstreife“), The Blue Knight („Der müde Bulle“), The Onion Field („Tod im Zwiebelfeld“) und The Choirboys („Die Chorknaben“). Das war mein L.A., lebendig neu erfasst und aus einer streng autoritären und provokativ komischen Perspektive erzählt. Die Bücher brachten mich dazu, mich meines gesetzlosen Lebenswandels zu schämen und ihn schließlich zu bereuen. Sie erheiterten mich aufs Köstlichste mit ihren unablässigen Breitseiten von Straßenhumor, Sex-Gequieke, Rassen-Gegrunze, wild-komischen Geschichten von Narkis und kranken Transen … Viele Bullen denken und sprechen wie ich. Aber kein anderer Autor. Was ist das für ein Humor, wenn man ihn auf seinen innersten Kern reduziert? Eine zum Äußersten getriebene Männerwelt, die auf witzige Weise überschnappt.“

Ellroy in a nutshell.

„This book is reactionary nostalgia“, kokettierte er damals bei mir. Natürlich ist es mehr.
Es schreibt auch die Befassung einer interessierten Öffentlichkeit mit einem grimmigen Aspekt der Fotografie weiter. Die Fotografie als Beweismittel – evidence im Englischen.
Ein Roland Barthes („Die helle Kammer“) oder eine Susan Sontag („Über Fotografie“ und „Das Leiden anderer betrachten“) aber ist Ellroy freilich nicht. Die LAPD-Fotos ähneln zwar dem Werk des New Yorker Fotografen Weegee, meint er, aber sie seinen ihm überlegen, weil sie „nur“ von Polizisten gemacht wurden, die ihre Arbeit taten.

Ellroy: „The arty police photography that has become a cliche. The police photographs in this album achieve artfulness only because LAPD camera jockeys aimed their cameras with pure cop efficacy. We’ve seen too many splatter shots with artful disarray. We’ve seen too many dead junkies with spikes in their arms, overjolted off Big „H.” Dig that gap-tooth wino who checked out in the gutter on East 5th Street. See that marquee for the burlesque show in the upper right corner? This pic is instantly gratuitous and redundant. The photographs in this volume seek to rebut crime scene chic.”

Exkurs: Tatort-Fotos und ihre Geschichte

Ellroys These, dass die im Polizeialltag entstandenen Tatortfotos „kein crime scene chic“ seien, keine Kunst, gab es ausgestalteter bereits 1992 in Luc Santes „Evidence“. Der belgisch-stämmige Autor und Kulturwissenschaftler – „Kill Your Darlings“, „Folk Photography“, und aus jüngerer Zeit: „The Other Paris“ – hatte 1991 nach Illustrationen für sein Buch „Low Life. Lures and Snares of Old New York“ gesucht und war auf eine Sammlung von 1400 Fotos aus dem New York Police Department aus den Jahren 1914 bis1918 gestoßen. Luc Sante: „Images mostly of crime scenes, of murder victims pictured on the sidewalk or in their narrow bedrooms, often from overhead, with angles so wide the tripod legs appeared to encase the dead. The pictures were so powerful, at once raw and lyrical, that I knew I had to write about them; the result was Evidence, which came out in 1992.“

Santes Arbeit, ein echter Maulwurf eben, führte zur Entdeckung und weitgehenden Rettung von 250 Kubikmetern vergessenem, teilweise hochgefährlichem Bildmaterial, Stichwort Nitro-Negative, dazu verwesende und ungeheuerlich stinkende Actetat- und harmlosere Polyesternegative, sowie 2000 Glasplatten. Ein Schatz, der sich immer noch in der Aufarbeitung befindet. Zwei Millionen Bilder aus der Zeit von 1914 bis 1975 will die New Yorker Polizei in den nächsten Jahren online stellen.

Die von Luc Sante entdeckten ersten 1400 Fotos stammten trotz ihrer Ähnlichkeiten von mindestens sechs Personen, allesamt Mitglieder des NYPD Bureau of Criminal Identification. Polizeifotografen. 
Heute sehen wir es in all den Fernsehserien und Filmen dauernd blitzen, aber sehen wir auch die Bilder, dürfen wir in ihnen lesen? Sie dienen nur für kurze Schock an der Seitenlinie. Exzessiv etwa in der Euro-ZDF-Serie „Das Team“ wo die Polizisten auch zuhause auf dem Sofa, die Kinder nicht weit, noch mal schnell auf dem Tablet grauslige Bilder wischen, um dann natürlich dazu einen Einfall zu haben. Maulwurf Luc Sante schürfte für sein hochinformatives „Evidence“ nach den Dienstanweisungen und Handbüchern solcher Fotografen. Er erkannte klar. Diese Bilder enthalten eine Wahrheit. (Ob es die von Walter Benjamin ist, „Entdeckt nicht der Fotograf in seinen Bildern Schuld?“, das sei dahingestellt.)

Die Fotografie von ihrer Vernunft befreien

Tatort-Fotos wollen nicht Kunst sein, sondern Dokument. Ein Polizist namens L.A. Waters empfahl 1937 in der März-Ausgabe von „American Photography“ die strikte Methode: zwei Überkopf-Fotos aus je 45 Grad, dazu ergänzende aus der Bodenperspektive und noch weitere aus allen vier Ecken des Raumes auf den Leichnam zu.

Schon kurz nach ihrer Erfindung wurde die Fotografie zum Studien- und Beweismittel, zum Medium wissenschaftlicher Untersuchungen, man denke an Eadweard Muybridges Reihenfotografien von Pferden, Turnern, Reitern oder Bisons.

Die erste polizeiliche Foto-Anwendung ist von 1846 datiert, als Mathew Brady die Gefangenen im New Yorker Blackwell’s Island Prison auf Daguerreotype-Platten bannte, sie fanden noch im gleichen Jahr im dem Buch „The Rationale of Crime“ Verwendung. 1854 begann das Sand Francisco Police Department mit dem Fotografieren von Kriminellen und von Tatorten, die Polizeifotos vom Tatort der Ermordung Präsident Lincolns waren 1865 der bis dahin prominenteste Fall. Fotos aus dem Theater wurden zur Fahndung eingesetzt. „Portaits perlés“ (sprechende Ähnlichkeit) nannte 1972 Alphonse Bertillon seine biometrischen Fotos von Kriminellen. Seine Methode wurde 1893 auf der Weltausstellung in Chicago international bekannt. Um 1880 wurde die Polizeifotografie in Frankreich systematisiert. Die amerikanischen Polizeidirektionen legten „Rogue’s Galleries“ an und fabrizierten „Wanted“-Poster.

1886 veröffentlichte der New Yorker Polizeiinspektor Thomas Byrnes sein Fotobuch „Professional Criminals of America“ im Selbstverlag. Er war einer der ersten, der darauf hinwies, dass Kriminelle nicht immer wie Kriminelle aussehen. William Healy zog 1915 nach mit „The Individual Delinquent“. 1942 schrieb Charles S. Scott das erste Handbuch für die Verwendung von fotografischen Beweisen im Gerichtsverfahren. Der französische Gerichtsmediziner Philippe Charlier stellte für sein Buch „Seine de crimes“ über die ersten forensischen Beweisstücke an die 100 Fotos von Morden, Suiziden und tödlichen Unfällen zusammen, die zwischen 1871 und 1937 in Paris aufgenommen wurden.

Nun also Ellroy, 85 Tatort-Bilder von 1953 (in der US-Ausgabe in Duoton-Qualität gedruckt, Fotogalerie hier), die Texte 61 Jahre nach dem Blitzlichtzucken von damals geschrieben. Vielleicht die richtige Methode und gewiss der richtige Mann – egomanisch, provokant und durchgeknallt genug, um im Sinne von Roland Barthes über Fotos zu schreiben. Barthes hatte gewarnt:

Die Gesellschaft ist darauf bedacht, die PHOTOGRAPHIE zur Vernunft zu bringen, die Verrücktheit zu bändigen, die unablässig im Gesicht des Betrachters auszubrechen droht. Zwei Mittel stehen ihr hierfür zu Gebote.

Das erste besteht darin, die PHOTOGRAPHIE zur Kunst zu machen, denn keine Kunst ist verrückt.

Die zweite Möglichkeit, die PHOTOGRAPHIE zu zügeln, besteht darin, sie in solchem Maße einzuebnen, zu vulgarisieren, banal zu machen, dass neben ihr kein anderes Bild mehr eine Eigentümlichkeit behaupten könnte, seinen Skandal, seine Verrücktheit.“

James Ellroy ist verrückt genug, den Bildern der Polizei von Los Angeles mehr als 60 Jahre nach ihrer Entstehung ihre Verrücktheit und ihr Fieber zurückzubringen.

Dig it.
It’s L.A.
It’s 53. It’s film noir.

Alf Mayer

James Ellroy, Glynn Martin for the Los Angeles Police Museum: LAPD ’53 (US-Ausgabe 2015). Aus dem Amerikanischen von Stephen Tree. Ullstein Verlag, Berlin 2022. 224 Seiten, 18 Euro. Verlagsinformationen hier.

Literatur zum Thema:

Luc Sante: Evidence. Photos from the Municipal Archive. Farrar, Strauss and Giroux, New York 1992.

Sean Tejaratchi, Katherine Dunn: Death Scenes. A Homicide Detective’s Scrapbook. Feral House, Los Angeles 1996. (Heavy Stuff vom Polizisten Jack Huddlestone, 1921 bis zu den frьhen 1950ern, mit erwürgten Neugeborenen u.a.; immer mehr zeigt sich eine morbide Faszination des Fotografen. Warnung an Zartbesaitete.)

Sandra S. Phillips, Mark Haworth-Booth, Carol Squiers: Police Pictures. The Photograph as Evidence. San Francisco Museum of Modern Art/ Chronicle Books, San Francisco 1997.

Eugenia Parry: Crime Album Stories: Paris 1886 – 1902. 450 Seiten. Scalo Publishers; New York 2000.

2007 gab es in Amsterdam die Ausstellung „Plaats Delict Amsterdam“ mit Fotos aus dem Polizeiarchiv aus der Zeit von 1965 bis 1985.

Philippe Charlier: Seine de crimes. Broschur, 224 Seiten. Le Rocher Editions, Paris 2015.

Zum meinem Interview mit James Ellroy geht es hier.

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