Geschrieben am 1. November 2023 von für Crimemag, CrimeMag November 2023

Alf Mayer liest Jochen Brunow, „Verdeckte Spuren“

Der Raum stets mehr als der Ort der Handlung

Dass dieser Kriminalroman als Book on Demand erscheint und nicht bei einem Normalverlag, sagt etwas über die Verlagslandschaft, zeigt aber auch Haltung. Jochen Brunow ist ein Erzähler, ganz unbestritten, und das lange schon. Warum sollte er mit Anfang 70 Kompromisse machen? „Verdeckte Spuren“ ist als erster Teil einer Trilogie angelegt. „Die Chinesin“ und „Der Mann vom Meer“ sollen folgen.

Mir immer noch unvergessen ist einer der schönsten Liebesfilme, die ich kenne: „Berlin Chamissoplatz“ von Rudolf Thome, Drehbuch: Jochen Brunow, Kamera Martin Schäfer. Bei der Uraufführung am 1. November 1980 auf den Hofer Filmtagen war ich dabei. Zwanzig Tage aus dem Leben von Anna und Martin (Hanns Zischler und Sabine Bach), segmentiert durch zwanzig lange Auf- und Abblenden. Einmal sitzen die beiden im Kino, es läuft Jacques Rivettes „Celine und Julie fahren Boot“. Martin schläft an ihrer Schulter ein, Anna weint fast unmerklich. Mir pocht heute noch das Herz, wenn ich an die Szene denke.

Jochen Brunow ist ein Erzähler. Auch für das Unsichtbare. Immer schon gewesen. Ich lernte ihn als Filmkritiker kennen. Dann wurde er Mitbegründer der Zeitschrift „Filme“, der Anspruch an die Texte dort hoch, so ernst genommen wie das Filmemachen selbst. Er gehörte zu den Gründern des VDD, des Berufsverbands der Drehbuchautoren, rief 1987 die Berliner Drehbuchwerkstatt mit ins Leben, wurde Seminarleiter, Juror und Stoffbetreuer, Dozent für Dramaturgie und Drehbuch an der DFFB in Berlin und der ZHDK in Zürich. Immer schon interessierten ihn Musik und ihre Verbindung mit dem Film, dem spürte er unter anderem in der Hörfunk-Reihe „Die Entfesselung der Bilder“ nach.

Sabine Bach und Hanns Zischler in „Berlin Chamissoplatz“, 1980

Und jetzt also nach Drehbucharbeit („Filmemachen auf Papier“, nennt es Frank Daniel), vielen Reisen, darunter auch länger Neuseeland, Autor eines Kriminalromans. Schauplatz: Sardinien, ganz viel Sardinien, und Berlin. Nicht das übliche Debüt. Nicht das übliche Möchtegern und Kannichdochauchmal. Ganz stark, von Anfang an, sind Ort und Zeit.

„Die Stille war groß in den Bergen von Sardinien. Sie hatte eine Ausdehnung, hatte Struktur und Masse. Die Stille war lebendig, sie wohnte im gleißenden Licht der Sonne. Aus dieser Stille kamen die Geschichten der sardischen Erzähler. Vor dieser Stille retteten ihre Geschichten. Ihnen lauschte Gerhard Beckmann gerne, wenn auf seinen Touren ins dünnbesiedelte Inselinnere sich die Alten auf dem Platz vor der örtlichen Kirche im Schatten der Plantanen begrüßten: „Mögest du hundert Jahre alt werden.“
Und das Gegenüber erwiderte: „Mögest du sie zählen.“

Gerhard Beckmann, 61, vorzeitig pensionierter Ex-Polizist aus Berlin, hat Sardinien zu seiner zweiten Heimat gemacht, will dort seine Ruhe. Will sich an die Stille lehnen und im Freiluftkino die Augen schließen, wenn er an seine tote Frau Anna denkt. Erst aber explodiert ein Schuss, gleich auf Seite Drei, als Beckmann nackt in einem Stausee badet. Hatte das ihm gegolten? Ist das Baden hier verboten? Er sieht einen Mann, schemenhaft, der eine Waffe wegpackt und wegfährt. Beckmann steckt die Szene weg. Trifft sich mit dem jungen Journalisten David Richter, der eigens aus Berlin angereist ist und ein Porträt über ihn machen will, auf die Gründe für seinen Abgang neugierig ist. Nun ja, da wurde vielleicht zu heiß ermittelt. Korruption am BER, im Sicherheitsbereich. Clan-Milieu, Geldmaschine. Berge von Geschäftsunterlagen und Kommunikationsdaten. Beckmann und sein Kollege Schäfer haben das alles in Sicherheit gebracht, es muss nur jemand auswerten. Richter ist interessiert. Deshalb ist er da.

Und das weckt schlafenden Hunde. Beckmann wird zuhause überfallen, zusammengeschlagen, seine Zugehfrau böse verletzt. Vom Täter sieht er nur die Fußspitzen: Cowboystiefel, metallbeschlagen. Über weite Strecken des Buches – und das ist das Kino im Kopf – reichen diese Stiefelspitzen, um der Gegenseite, mit der Beckmann es zu tun hat, ein Gesicht zu geben. Das, und ein Verweis auf „die aus Calvi“, auf eine ominöse Rotte 13: im korsischen Calvi stationierte Fremdenlegionäre, die wohl mit der Fähre die kurze Strecke nach Sardinien herüberkommen.

Zwischen Sardinien und Berlin oszillierend zieht der Fokus der Handlung sich immer weiter auf. Viele Kleinigkeiten und Details, flirrende Einzelheiten, Hintergrund, Musik und Kultur,  Sonne und Staub, viel Sardinien, immer ein genauer „sense of place,“ geben der Lektüre die wunderbare Körnigkeit eines echten Kinofilms.

Der alte Drehbuchhase Wolfgang Kohlhaase, pardon the pun, sagte dazu: „Wenn man an einem Ort ist, ist man in der Welt.“ Oder frei nach Claudio Magris: „In einem Splitter kann die Welt sein.“ Jochen Brunow hat sich, natürlich, damit beschäftigt, siehe etwa seinen Essay „Vom Raum, in dem wir leben. Gedankensplitter zur räumlichen Verortung des Erzählens“. Darin heißt es unter anderem:

Drehbuchautoren ist beim Schreiben, wie Regisseuren beim Inszenieren, der Raum stets mehr als der Ort der Handlung. Er ist ein Mittel der vielfältigen Kommunikation mit dem Leser/Zuschauer, das nicht nur unter Realismusgesichtspunkten gestaltet wird. Farben, Licht, Bewegungsmöglichkeiten und andere Aspekte werden in dem Prozess, den die Amerikaner – sowohl beim Drehbuchschreiben als auch beim Inszenieren – preparation of the set nennen, entwickelt und festgelegt. David Fincher – der Filmemachen allerdings nicht für Wissenschaft, sondern für Alchemie hält – sagt dazu: „Alle Mittel, die ich einsetze, auch die technologischen, sind darauf ausgerichtet, eine emotionale Wirkung zu erzielen. Ein Zuschauer mag sich dessen nicht bewusst sein, aber er reagiert auf alles – das Licht, die Kostüme, die Schauspieler, den Ton. Und ich muss die Bilder, Musik, Stimmen, Farben und Rhythmen so orchestrieren, dass sie eine Reaktion hervorrufen. Wenn ich sanftes Licht benutze, sagt das über einen Schauplatz etwas anderes aus als hartes Licht … Ich erschaffe keine Bilder, sondern Gefühle.“ 

Jochen Brunow tut das mit Worten. Große Kunst. Und die Stiefelspitzen kommen noch mehr als einmal vor.

PS. Ich mag in diesem Roman auch die Medienreferenzen des Medienmenschen Jochen Brunow. Etwa wenn seine Figur am RIAS Funkhaus vorbeikommt, in dem er selbst einst gerne gearbeitet hat. Wenn er an Friedrich Luft denkt („Wer spazieren geht, der hat das eigentliche Tempo des denkenden Menschen“). Wenn Beckmann das kleine Pueblo-Dorf San Salvatore di Sinis besucht, wo Italowestern gedreht wurden („Ausgeblichene Farben blätterten von rissigem Holz. Helles Lehmbraun, Ocker, ungestrichener Putz und rohe schwarze Feldsteine“). Wenn er beim shoot-out an die Day for night-Aufnahmen in Westernfilmen denken muss, die ihm im Kino immer unerträglich künstlich erschienen waren: „Das Licht so hell, dass Bäume und Felsen, Natur und Gegenstände lange Schatten warfen.“ Oder die kleine Nebenbei-Szene in einer WG, als eine Mitbewohnerin das Frühstücksgeschirr wortlos in die Spülmaschine räumt: „In ihrem Volontariat beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk war sie gewöhnt, für das schmutzige Geschirr verantwortlich zu sein.“ 

Alf Mayer

Jochen Brunow: Verdeckte Spuren. BoD, Norderstedt 2023. 330 Seiten, 15,90 Euro. – Seine Internetseite hier.

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