Geschrieben am 1. März 2022 von für Crimemag, CrimeMag März 2022

Alf Mayer: Interview mit Hoeps & Toes

Hoeps & Toes © Jörg Wüstkamp/ Unionsverlag

Europa schreiben, im Kriminalroman

Estland, Litauen, Strasbourg, Dresden, die Slowakei, Tschechien, Polen, Österreich, Frankreich, die Vogesen, Biarritz, Belgien, die Niederlande – viele europäische Orte und Regionen werden uns spätestens jetzt mit Putin noch näher wachsen als je zuvor. Überhaupt Europa. Ich habe mich immer schon gefragt, warum Kriminalromane bei uns so selten über Ländergrenzen streifen, warum es nicht öfter eine transeuropäische Sicht in der Kriminalliteratur gibt. Das hat mich jetzt bei „Der Tallinn-Twist“ von Hoeps und Toes elektrisiert – siehe auch die Besprechung von Thomas Wörtche bei uns in den „Bloody Chops“. 
Sie sind mir Nachfahren von Nicolas Freeling, eigentlich Nicolas Davidson (1927 – 2003), ein britischer Schriftsteller, der den Großteil seines Lebens im kontinentalen Europa verbrachte und von 1963 bis 1972 zehn Romane mit dem holländischen Inspektor Piet van der Valk schrieb, gefolgt 1974 bis 1996 von 16 Romanen mit dem Polizisten Henri Castang. Allesamt frühe Beispiele nicht nur grenzüberschreitender Ermittlungsarbeit, sondern auch der ganzen europäischen Geistesgeschichte verpflichtet. 

In „The King of the Rainy Country“ (1966, deutscher Titel: Bluthund) hat Van der Valk den diskreten Auftrag, den verschwundenen Firmenerben Jean-Claude Marschal aufzuspüren, folgt ihm nach Innsbruck, Strasbourg und einem Dorf in den Vogesen, profitiert dabei von der Zusammenarbeit deutscher, österreichischer und französischer Polizisten, findet den Gesuchten tot in einem Selbstmordpakt, der an die Affäre Mayerling erinnert, folgt der Witwe nach Biarritz und an die spanische Grenze, wo er dann angeschossen am Hang liegt – das Buch schlägt von dort einen großen elliptischen Bogen rückwärts. Übersetzt wurde der Roman vom Schriftsteller Peter de Mendelssohn, einem literarischen Schwergewicht.

Doch nun zu Thomas Hoeps und Jac. Toes.

Die Beiden sind ein wirklich besonderes Gespann und das vermutlich erste inter­na­tio­nale Autoren-Team, das die Sprachgrenzen überschreitend gemeinsam Kriminalromane veröffentlicht. Thomas Hoeps lebt in Krefeld, leitet dort das Niederrheinische Literaturhaus. Jac. Toes ist Gerichtsreporter und lebt runde 120 Kilometer entfernt im niederländischen Arnhem. Ihr Erstling „Nach allen Regeln der Kunst“ (Kunst zonder genade) wurde 2008 als einer der fünf besten Krimis der Niederlande für den niederländischen Krimipreis „Gouden Strop“ nominiert und in die Top-Lijst zum Belgischen Krimipreis „Diamanten Kogel“ gewählt. Inzwischen arbeiten sie 15 Jahre zusammen, können also Jubiläum feiern. Ihr gerade erschienenes Buch, der fulminante EU-Thriller „Der Tallinn-Twist“ hat durch den Überfall Russlands auf die Ukraine eine erschreckende Aktualität gewonnen. 

Alf Mayer: Thomas Hoeps, für Ihre Bücher schreiben Sie auf Deutsch und übersetzen die von Jac. Toes auf Niederländisch geschriebenen Kapitel ins Deutsche – und jetzt auch meine Fragen. Legen wir los…

Jac. und Thomas: Zunächst einmal müssen wir sagen, wie schockiert wir über den Krieg in der Ukraine sind. In „Der Tallinn-Twist“ haben wir das Szenario der Destabilisierung ehemaliger Sowjetrepubliken als Vorbereitung auf einen echten Krieg als eine ständige und wachsende Sorge im Baltikum beschrieben. Dass diese Fiktion nun in der Ukraine schnell zu einer grausamen Realität wird, hätten wir uns selbst in unserer kühnsten Fantasie nicht vorstellen können. „Der Tallinn-Twist“ erhält dadurch eine sehr makabre Aktualität, und die Worte der deutschen Botschafterin in Estland, mit der wir während unserer Recherchereise gesprochen haben, schwirren in unseren Köpfen herum: „Wenn die Russen wollen, stehen sie in zwanzig Minuten vor der Tür.“ 

Sie schreiben seit 15 Jahren zusammen Kriminalromane. Was ist für Sie je das Besondere dieser Zusammenarbeit?

Jac.: Wir sind ein kompensierendes Autorenduo: Wir verstärken einander nicht in den Eigenschaften, die wir bereits haben, sondern ergänzen uns in den Gegenteilen. In Beziehungen ist das nicht immer von Vorteil, aber bei uns funktioniert es perfekt. Zum Teil geht es dabei um unsere nationalen Unterschiede: deutsche Gründlichkeit vs. niederländische Lockerheit, deutsches Qualitätsbewusstsein vs. niederländische Flexibilität, deutscher Tiefgang vs. niederländische Heiterkeit. Außerdem erkennt der eine die blinden Flecken des anderen, bemerkt, wo der andere Möglichkeiten für einen stärkeren Text auslässt, und hat kein Problem damit, die Darlings des anderen zu töten. Und glaub es oder nicht, wir haben uns noch nie deswegen gestritten, wohl auch, weil wir uns an zwei Prinzipien halten: Erstens: Der Stil des anderen ist heilig, da schraubt keiner von uns dran herum. Zweitens: Wir gehen niemals einen Kompromiss ein, sondern überlegen so lange, bis wir beide zu 100 % zufrieden sind.

Thomas: Alles absolut richtig, wobei hinsichtlich der nationalen Eigenheiten zu ergänzen ist, dass sie kurioserweise regelmäßig vom einen zum anderen überwechseln. Nicht zufällig hat Jac. eine Vorliebe für die Präzision deutscher Kuckucksuhren und Pünktlichkeit, vielleicht ein genetischer Restbestand seiner vor sieben Generationen noch in Deutschland lebenden Vorfahren. Mich hingegen bezeichnet er gerne als einen schweren Fall von Transstaatsangehörigkeit, „ein Niederländer, gefangen im Körper eines Deutschen“. Wahrscheinlich sind wir auch wegen dieser inneren Grenzüberschreitungen so gute Freunde geworden.

Von OLAF, dem Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung, wissen wir als Zeitungsleser. Aber die EU-Security und jemand wie die Ermittlerin Marie Vos, wie nahe ist das an der Wirklichkeit?

Jac. & Thomas: Die EU-Security gibt es tatsächlich. Sie ist eine eher kleine und vor allem wenig bekannte Direktion der EU in Brüssel und gehört zur Generaldirektion Human Resources. Das Ziel dieser speziellen Abteilung ist herrlich vage formuliert: „Gewährleistung der Sicherheit und des Schutzes von Personal, Eigentum, Aktivitäten und Informationen.“ Dieses Mission Statement kann in jede Richtung ausgedeutet werden, und wir als Spannungsautoren haben das sehr gerne genutzt. Wobei wir vermutlich nicht so weit weg von der Realität waren, diese Abteilung mit einer Spionageabwehroperation zu betrauen, nachdem ein hochrangiger Beamter dabei erwischt worden war, politisch wichtige strategische Informationen an Dritte weiterzugeben.

Überhaupt die Wirklichkeit: Das ist schon Markenzeichen und Anspruch bei Ihnen, oder?
Wie würden Sie es formulieren?

Jac. & Thomas: Ja, eine gute Recherche ist schon unser Markenzeichen, aber damit wollen wir uns nicht besonders brüsten: Vor allem ist sie einfach die attraktivste Phase des Schreibprozesses. Dieses wunderbare Abenteuer mit seinen unzähligen unerwarteten, wertvollen Entdeckungen bietet noch alle Freiheiten der Welt, um spontan in alle Richtungen zu gehen. Ziemlich verlockend, diese Entdeckungsreise ewig fortzusetzen, aber irgendwann muss man doch einen Plot und die Hauptfiguren entwickeln, die Konstruktion, in der wir dann unseren Recherchen einen Platz geben. Quantitativ ausgedrückt: Höchstens 25 % unserer Recherchen fließen in unsere Kriminalromane ein. 

Tallinn bei Nacht © Wiki-Commons

Beim „Tallinn-Twist“ hatten wir das große Glück, Estland noch kurz vor dem Corona-Lockdown zu besuchen. Ein Glücksfall: Es war uns klar geworden, dass die Geschichte im Winter spielen sollte. Also sind wir Mitte Februar 2020 noch schnell nach Tallinn geflogen.

Für uns faszinierend: Es geht im Roman ja um das Recht auf Wasser und den Kampf dagegen, ein überlebenswichtiges Gut zu kommerzialisieren. Aber bei unseren Gesprächen in Tallinn und bei der späteren Quellenrecherche rückte für uns immer mehr auch die russische Bedrohung des Baltikums und zugleich die in mehrfacher Hinsicht unheilvolle Rolle des Rechtsnationalismus‘ in den Vordergrund. Das hat dem Roman noch mal eine ganz besondere Richtung gegeben. Eine, die jetzt durch die Ukraine-Krise nochmals furchtbar an Brisanz gewonnen hat.

Kurz gesagt, unsere Geschichten müssen neben interessanten, vielschichtigen Charakteren immer auch gesellschaftliche Relevanz besitzen, sonst wäre die lange Arbeit daran für uns nur Zeitverschwendung.

Es muss Ihnen ungeheuer Spaß machen, zum Beispiel mit Marie Vos und ihrer Task Force die ganzen kriminalliterarischen Potentiale des Politik- und Wirtschaftsraums EU, die ganze Bürokraten- und Schattenwelten als „Stoff“ zur Verfügung zu haben… Wie sind Sie darauf gekommen? Gab es ein Schlüsselerlebnis?

Jac.& Thomas: Auf der Frankfurter Buchmesse 2019 hatten wir ein langes Gespräch mit unserem Schweizer Verleger Lucien Leitess, in dem wir unsere weiteren Pläne besprachen. Als bekannter Verleger für Weltliteratur brachte Lucien die Idee auf, uns dieses Mal nicht auf unsere Heimatländer Niederlande und Deutschland zu beschränken, sondern den Blick über ein paar Grenzen mehr hinweg zu richten. Brüssel als europäische Hauptstadt kam uns schnell in den Sinn, und die Trinkwasserversorgung als Casus Belli war etwas, das wir oft diskutiert hatten. Außerdem interessierte uns Nordosteuropa schon länger als Spielort, und als wir lasen, dass die Stadt Tallinn von seinem privaten Wasserversorger auf 90 Millionen Euro Schadensersatz verklagt worden war, hatten wir unser Setting. Ergänzt um die verschiedenen EU-Institutionen, die sich als Glücksgriff erwiesen, nicht nur wegen der Interessenkonflikte zwischen den Mitgliedsstaaten und dem daraus resultierenden politischen Spiel, sondern auch wegen des ewigen Konflikts zwischen Reden und Handeln. Da kann man der Story schon eine ordentliche Dosis Humor injizieren, und die diversen Konflikte aufeinanderprallen zu lassen, ist eine ergiebige Spannungsquelle.

Sie sind auf eine Goldader gestoßen. Warum gibt es so wenig Romane aus dieser Welt? Was ist Ihre Vermutung?

Jac. & Thomas: Angst vorm Sprung ins kalte Wasser, fürchte ich. Von außen betrachtet ist der EU-Apparat in Brüssel natürlich eine Ansammlung von langweiligen Beamten, die tagein tagaus in endlosen Sitzungen bürokratische Wortungetüme austauschen. Um die für einen Krimi nötige Spannung zu erzeugen, ist das jetzt nicht das nahe liegendste Setting.

Das war für uns auch eine der Herausforderungen. Die Abläufe bei solchen Vertragsverhandlungen mit mehreren widerstrebenden Interessen nicht aus Gründen der Authentizität eins zu eins darzustellen, sondern als Motor für eine spannende Handlung und zur Charakterisierung lebendiger Figuren zu nutzen. Und das im hohen Erzähltempo eines Thrillers. Wahrscheinlich haben wir beim Überarbeiten eines Romans hinterher noch nie so viel wieder gestrichen wie bei diesem.

„Die Cannabis-Connection“ und „Der Tallinn-Twist“, so könnten auch Romantitel von Ross Thomas lauten. Sehen Sie sich in seiner Nachbarschaft? Und mit welchen Autoren würden Sie sonst noch gerne ein Glas heben? 

Jac.: Als ehemaliger Radioreporter mit eigener Krimikolumne habe ich so viel gelesen, dass ich nicht mehr sagen kann, von wem ich in welchem Umfang beeinflusst wurde. Wer mir spontan als großer Meister einfällt: John le Carré, der immer wieder großartig die Zerstörung persönlicher Integrität und Liebe im Widerstreit mit institutioneller Loyalität beschrieben hat. Mit ihm hätte ich gerne einen guten Whisky getrunken. Der zweite ist der flämische Krimiautor Jef Geeraerts, der zeigte, wie man seine Rechercheergebnisse zu einem natürlichen und integralen Bestandteil des Plots macht. Überhaupt war Jef Geeraerts für mich ein vorbildhafter Rechercheur, weil er alles am eigenen Leib erfahren wollte, bevor er darüber schrieb. Er ging sehr weit darin: Nach eigener Aussage habe er einmal Menschenfleisch gegessen, um beschreiben zu können, wie es schmeckt. Als Vegetarier würde ich ihm das nicht nachtun, aber er hat mich doch dazu inspiriert, meine Kriminalromane über eine Live-Recherche als unverzichtbare Basis zu entwickeln.

Thomas: Tatsächlich ist Ross Thomas einer der wenige Krimiautoren, von denen ich fast alles gelesen habe. Hammer-Dialoge, feinster Noir-Style, großartiger Zynismus und Humor – und es ist eigentlich völlig egal, worum der Fall sich eigentlich dreht, irgendetwas in einer durch und durch korrupten Politblase und mit desillusionierten Geheimdienstlern. Ich weiß meist eine Stunde danach nicht mehr, was es genau war, nur noch, dass ich eine verdammt grandiose Zeit damit hatte. Und das, obwohl es ziemlich weit weg von dem ist, was ich mir für meine Geschichten an gesellschaftlicher Relevanz wünsche. Also sehr gerne Bourbon on the rocks mit Ross Thomas in Mac’s Place. Ansonsten liebe ich es, reichlich Gläser mit meinen geschätzten Syndikats-Kolleginnen und Kollegen an der Criminale-Bar zu heben. Am liebsten, während draußen an den Ecken die distinktive Dünkelkrimipolizei patrouilliert.

Sie sagen: „Aus den Krimis mit ihren klassischen Strukturen haben wir uns weiterentwickelt“ – wie würden Sie beschreiben, was Sie heute tun? 

Jac. & Thomas: Vielleicht, statt klassischer Krimis schreiben wir jetzt einfach nur klassische Thriller? Im Ernst. Was wir damit meinten, war, dass wir nach unserer Trilogie um die Polizeipsychologin Micky Spijker und den Kunstrestaurator Robert Patati keine Lust mehr auf klassische Ermittlergeschichten hatten.

Was uns auch verbindet, ist die stetige Neugier, etwas anderes zu erproben. Das ist ökonomisch vielleicht nicht superklug, aber: „If you can’t amuse yourself, you can’t amuse anybody.“ (Frei nach Kingsley Amis)

Der Thriller bietet uns deutlich mehr Freiheiten, die Figuren und ihre Schicksale stehen im Vordergrund, die Handlung kann, aber muss nicht zwanghaft auf ein Whodunnit zulaufen, und schon gar nicht mit all den zusätzlich nötigen Erklärungen des Warum und Wann und Wie. Die Spannung entsteht vielmehr aus der Dynamik und Vielschichtigkeit von Handelnden, Handlung und thematischem Kontext. Und am Ende ist die Welt noch genauso gebrechlich eingerichtet, genauso ungerecht und genauso unfair wie zuvor, ohne dass einer sagte, ja es war schlimm, aber immerhin haben wir ja schon mal diesen Fall geklärt.

Viele moderne Ermittlerinnen haben eine Macke, sie sind versehrt oder traumatisiert. Lisbeth Salander zum Beispiel ist schwer missbraucht worden, Saga Norén leidet unter dem Asperger Syndrom, Carrie Mathison unter einer bipolaren Störung. Warum, denken Sie, muss das so sein? Und warum machen Sie das nicht?

Jac. & Thomas: Das gilt ja inzwischen auch für einige Ermittler, z. B. bei Gil Ribeiro. De facto schlagen wir uns alle mehr oder minder mit unseren Behinderungen, Schädigungen und Deformationen herum. Die meisten wollen es nur nicht wahrhaben und zeigen mit dem Finger auf die andern, um sich besser zu fühlen. Also insofern kann es sich lohnen, über die Hauptfiguren tiefere Einsichten dazu zu vermitteln. Ärgerlich wird es nur, wenn es freakshowmäßig ausgestellt wird und für ein einverständiges Grinsen über „die da“ benutzt wird. Unsere Marie Vos hat einen vergleichsweise milden Lebensverlauf, aber sie hat auch ihr biografisches Päckchen zu tragen, das ihre Perspektive auf das Geschehen verzerrt und die Handlung beeinflusst. Reality bites.

Wie läuft Ihr Schreibprozess? Und wie geht das, über Sprachgrenzen hinweg zusammen kreativ zu sein und zu schreiben?

Jac. & Thomas: Nach der Themenfindung und Recherchephase entsteht ein ziemlich ausführliches Exposé mit groben Plotlinien und biografischen Skizzen der Figuren. Das können schon so zwanzig, dreißig Seiten sein. Gemeinsam angefüllt, Deutsch und Niederländisch, denn jeder von uns schreibt natürlich in seiner Muttersprache. Auf dieser Basis planen wir die ersten Kapitel und so weiter. Wer von uns welche Szenen oder welches Kapitel schreibt, hängt von vielen Aspekten ab, z. B. wer von uns sich in einer bestimmten Zeit, einem Thema oder einer Gegend besonders gut auskennt. Oft aber auch, aus welcher Figurenperspektive die Szene erlebt wird, denn in aller Regel »betreut« jeder von uns eine Hauptfigur oder wichtige Nebenfiguren.

Spätestens bei der Überarbeitung geht es dann wild durcheinander. Jeder von uns schreibt Absätze in die Kapitel des anderen, teilweise sogar nur Halbsätze. Wir schlagen auch Striche in den Kapiteln des anderen vor – immer mit dem Ziel, dass alles besser wird.

Wenn wir fertig sind, und Thomas vom Verlag den Übersetzungsauftrag hat, übersetzt er Jac.s Textanteile, so nah an Jac.s Stil wie möglich und mit einer gewissen Freiheit, sie an deutsche Verhältnisse anzupassen, Jac. liest gegen und meistens verändern wir dabei nochmals den Text.

Wie ist das bei Ihnen mit den Figuren? Wie nahe sind Sie Ihnen? Wie sehr haben Sie sie im Griff? Gibt es Überraschungen? Können wir ein Beispiel haben?

Jac. & Thomas: Die Figuren, die wir bisher am tiefsten durchdrungen haben, sind wohl Marcel Kamrath in der Cannabis-Connection und der Freund von Marie Vos, der Autoschieber im großen Stil, Berend Schroot, eine wichtige Nebenfigur mit eigener Erzählperspektive im Tallinn Twist. Beim Schreiben saß schon nach ganz kurzer Zeit jeder Satz, den sie sagen oder denken. Beide haben ihre ganz eigene Sprache. Und wir wechseln bei ihnen nahtlos aus der Innenperspektive in eine Außenperspektive, bei der wir ihnen direkt am Ohr auf der Schulter hocken. Ein einziges Vergnügen, auch jetzt noch, wenn wir es selbst (vor-)lesen. 

Anders als noch bei unserer Spijker-Patati-Trilogie liegt in den Figuren viel weniger von unseren eigenen Persönlichkeiten: Es sind vollkommen eigenständige Charaktere.

Überraschend sind für uns weniger seltsame Handlungen, die gegen unseren ursprünglichen Erzählplan stehen, als die biografischen Geschichten, die wir von ihnen während des Schreibens plötzlich erfahren. So, dass Marie Vos als junges Mädchen sich durch die legendäre Schlittschuhlauf-Tour „Elf-Steden-Tocht“ durchgekämpft hat – eine lebensentscheidende Aktion. Das haben wir erst plötzlich beim Schreiben erfahren.

Und Marie Vos, die Hauptfigur im „Tallinn-Twist“, taucht sie nicht schon als Nebenfigur in der zweiten Hälfte der „Cannabis Connection“ auf?

Jac. & Thomas: Ja,sie war ungewöhnlicherweise mit einer Ich-Perspektive ausgestattet. Und sie war reich genug an Charakter und Biografie, um mit ihr intensiver weiterzuarbeiten. Zumal es unsere Idee war/ist, Stand-alones zu schreiben, die aber auf diese Weise locker miteinander verbunden sind. Es könnte also sein, dass eine der Nebenfiguren des „Tallinn-Twist“ beim nächsten Buch ins Zentrum rückt.

Thomas Hoeps, Sie waren 15 Jahre lang Leiter des Städtischen Kulturbüros in Mönchengladbach, jetzt sind Sie der neue Leiter des Niederrheinischen Literaturhauses der Stadt Krefeld. Wie ist das?

Ach, ich hab immer beides gern gemacht: Kultur organisieren und schreiben. Also ist das eine auch mehr als nur ein Brotjob. Für das Niederrheinische Literaturhaus hatte ich als Freelancer schon 1998 das allererste Konzept geschrieben. Ist jetzt noch mal eine schöne Herausforderung, das Haus nach vorne zu entwickeln und etwas für die literarische Szene der Region zu bewegen.

Mit einem 30-Stunden-Vertrag habe ich nicht ganz so viel Zeit zum Schreiben wie ich gerne hätte, aber man wird sehen. Früher hatte ich 40 Stunden plus viel Fahrtzeit und habe in der Zeit doch fünf Romane geschrieben. Aber jetzt ist gerade Neustart- und Aufbauzeit im Literaturhaus, das braucht den ganzen Hoeps (abgesehen von den eigenen Lesungen aus dem Tallinn Twist).

Und Sie, Jac. Toes, Sie sind freier Gerichtsreporter? Gibt es einen Fall, an den Sie immer noch denken?

Jac. Na klar. Ein Fall von Tiermisshandlung. Ich kam wutentbrannt aus dem Gerichtssaal heraus, aber zum Glück konnte ich mich abkühlen, denn ich musste zwanzig Minuten zum Bahnhof laufen. Bei dem Verdächtigen handelte es sich um einen nicht sehr intelligenten jungen Mann, der in einer von Sozialarbeitern betreuten Wohnanlage lebte. Trotzdem gelang es ihm, zwei Katzen und einen Hund zu Tode zu hungern. Dafür brauchte er ein Jahr. Ab und zu gab er ihnen ein wenig Müsli. Ich war entsetzt ob der Hilflosigkeit dieser Tiere. Wenn er Besuch hatte, sperrte er sie in die Scheune, und wenn sie zu laut miauten oder vor Hunger bellten, drehte er das Radio laut auf.

Er bewahrte die Leichen noch eine Zeit lang auf, aus Einsamkeit, wie er sagte. Er bekam eine lächerlich geringe Strafe: zwei Wochen Gefängnis auf Bewährung und für fünf Jahre durfte er keine Haustiere mehr halten. Besonders letzteres gefiel dem Verdächtigen nicht. Auf dem Gang vor dem Gerichtssaal hörte ich, wie sein Anwalt ihn tröstete: „Ach, das kontrollieren die eh nicht.“

Ich schrieb meinen Artikel, aber ich blieb erschüttert. Gemeinsam mit einem Kollegen recherchierte ich über die Pflegeeinrichtung, in der der Mann untergebracht war. Es stellte sich heraus, dass die Direktorin in ihrem Job schon häufiger versagt hatte und dass da obendrein eine Ermittlung wegen Betrugs im Gange war. Wir entdeckten auch, dass die Betreuung in allen Bereichen mangelhaft war und dass das ganze Unternehmen in Wirklichkeit der Selbstbereicherung der Direktorin diente. Wir haben das in einem Artikel offengelegt und angeprangert. Ein paar Monate später wurde das Unternehmen für insolvent erklärt.

Von Krefeld nach Arnhem oder umgekehrt sind es rund eineinhalb Stunden oder 120 Kilometer. Wie ist ist das mit dem Verhältnis zwischen zwei Nachbarländern, die eine sowohl jahrhundertelange positive wie auch durch Weltkrieg/Holocaust in unserer Generation noch belastete gemeinsame Geschichte haben? Gibt es  da noch Fettnäpfchen oder dünnes Eis oder dünne Haut?

Jac.: Der zweite Weltkrieg spielt zwischen uns keine Rolle. Zu Beginn unserer Zusammenarbeit habe ich manchmal scherzhaft „Immer geradeaus“ gesagt, wenn wir zu einer Lesung oder einer Recherchetour aufbrachen. Denn ich gehöre zu der Generation, die deutsche Urlauber „immer geradeaus“ schickte, wenn sie nach dem Weg nach Zandvoort fragten (ich bin nahebei in Haarlem aufgewachsen).

Das hörte bald auf, denn ich wurde bemerkenswert deutschfreundlich erzogen. Unsere Familie war zum Beispiel die erste in der Nachbarschaft, die Urlaub in Deutschland machte. Dabei stellte sich heraus, dass mein Vater sehr gut Deutsch sprach. Vielleicht spielt zudem eine Rolle, dass auch deutsches Blut durch meine Adern strömt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ging Ahrend Toes aus Tesche bei Wuppertal nach Nordholland, um dort als Saisonarbeiter zu arbeiten. Er kehrte nicht nach Hause zurück, weil er ein Mädchen aus einer Paderborner Familie kennenlernte, die schon zuvor ihr Heil in den Niederlanden gesucht hatte. Sieben Generationen später wurde ich geboren. 

Thomas: Ich denke, dass Jac. schnell gemerkt hat, wie intensiv und lange ich mich mit den Verbrechen der Deutschen in der NS-Zeit beschäftigt habe und das auch in meine Arbeit übertragen habe, zum Beispiel in einer mehrfachen und fruchtbaren Zusammenarbeit mit dem New Yorker Videokünstler Karl Nussbaum, dessen Familie aus Mönchengladbach-Rheydt stammte und teils ermordet wurde, teils flüchten musste.

Anders noch als in den 1980er Jahren begegnet man als Deutscher heute in den Niederlanden sowieso nur noch selten Ressentiments. Zuweilen gibt es mal einen derben Scherz, den ich als mit Fug&Recht gemacht anerkennen kann, ohne mich persönlich getroffen zu fühlen.

Auf dünnem Eis bewegt sich in den Niederlanden freilich, wer die nicht unerhebliche Kollaboration gerade bei der Auslieferung der jüdischen Bevölkerung in den Holocaust zur Sprache bringt. Aber ich finde, es ist nicht gerade Aufgabe der Deutschen, sich in diese Selbsterkundung einzumischen. Wir sollten uns lieber darum kümmern, wieso jahrelang der NSU frei töten und Nazipack die Menschen in Halle und Hanau ermorden konnte und zugleich in unserem Land fremdenfeindliche Richter ihr persönliches Recht sprechen dürfen.

Die Unterscheidung zwischen U und E, das eher hochnäsige Herunterschauen des Feuilletons auf den Kriminalroman, gibt es das auch in den Niederlanden? 

Jac.: Absolut, und zwar schlimmer als in Deutschland. Die unverhohlene Verachtung der Hochliteratur für das Krimigenre reicht weit ins letzte Jahrhundert zurück, ist aber immer noch virulent. Sie zeigt sich beispielsweise in der grundsätzlichen Weigerung des Letterenfonds, Krimiautoren auch nur einen Cent an Förderung zu gewähren, während unsere hochliterarischen Brüder und Schwestern die vom Ministerium bereitgestellten Millionen Jahr für Jahr unter sich aufteilen.

Im Jahr 2009 ging ich mit einem Musterverfahren gegen diesen Missstand vor. Es kostete mich zwei Jahre, bis ich damit anshöchste Gericht (Raad van State) gelangte. Am Ende lautete das Urteil: Die Literaturchefs dürfen die literarischen Kriterien und deren Interpretation selbst bestimmen. Bleibst du als Krimiautor dabei auf der Strecke, hast du Pech gehabt.    

Und wie ist es als Leiter eines Literaturhauses, ein Krimiautor zu sein? 

Thomas: Zum einen habe ich ja vom „normalen“ Roman übers Theaterstück bis zum Gedichtband schon mal die ganze Bandbreite abgedeckt. Und dann nimmt man mich hier vermutlich eher als promovierten Literaturwissenschaftler wahr, der 30 Jahre lang für unterschiedlichste Insitutionen Literaturreihen und -festivals entwickelt und organisiert hat. Manche werden mein Schreiben von Krimis und Thrillern dabei vielleicht als verschrobenes, aber verzeihliches Hobby missverstehen.

Aber ich habe die Hoffnung, dass gerade durch diese persönliche Kombination von Literaturexpertise und professioneller Spannungsschreibarbeit mehr Leute aus der sogenannten Hochkultur endlich begreifen, dass es letztlich nicht auf Genre oder Gattung ankommt, sondern auf Sprache, Figurenzeichnung, inhaltliche Eigenheit und strukturelle Qualität. Und dass, sobald Kriminalromane diese Kriterien erfüllen, nicht weiterhin das so generöse wie vergiftete Lob „weit mehr als ein Krimi“ hervorgeholt wird.

Und man sollte auch mal vor der eigenen Türe kehren. Ich wünschte mir auch innerhalb des Genres von den Granden der Krimikritik etwas mehr Offenheit und weniger Dünkel gegenüber gut gemachten flotten und amüsanten Unterhaltungskrimis. Noir und gesellschaftlicher Fokus sind auch meine Favorites, aber eben nicht das ganze Genre. Man kann doch das eine feiern, ohne immer wieder auf das andere herabzuschauen. 

Gibt es jenseits des Krimigenres, Bücher/ Publikationen von Ihnen, auf die Sie stolz oder die Ihnen wichtig sind? 

Jac.: Abgesehen von ein paar Gedichten: Nein, seit meinem siebten Lebensjahr bin ich fasziniert von Krimi und Spannung. 

Thomas: Der gerade als Privatdruck erschienene Band „still ist es.jetzt / enter exit“ mit Bildern des Krefelder Künstlers Frank Bernemann und Gedichten und einer Erzählung von mir. Und als eine weitere spartenübergreifende Kollaboration, damals mit dem Fotografen Philip Lethen, der 2001 bei der Wiener „edition selene“ erschienene Gedicht-Fotoband „Bacon Notate“. Solche künstlerische Kommunikation von Bild und Wort ist für mich schon etwas ganz Besonderes.

Und noch einmal zum Krieg mit der Ukraine? Jetzt erst recht mit dem Schreiben auf europäischem Feld?

Thomas & Jac.: Innere Haltung und Setting in unseren Büchern waren ja immer schon europäisch, nur hat man das leider nicht so wahrgenommen.

Der erste Band unserer Patati&Spijker-Trilogie „Nach allen Regeln der Kunst“ spielte in einer Reihe deutscher und niederländischer Kunstmuseen entlang der Grenze und erschien bei Grafit, dessen programmatische Entwicklung im Buchhandel und in der Kritik leider meist ignoriert wurde. Damit hatten wir unser Label als Regiokrimiautoren weg. Obwohl ja schon dieses Setting im Prinzip international war.

Band 2 „Das Lügenarchiv“ spielte überwiegend in Amsterdam und handelte von der Neokolonialisierung Afrikas im Kontext mit dem Aufbau riesiger Plantagen zur Biokraftstofferzeugung, und Band 3 „Höchstgebot“ schließlich spielte im Dreiländereck, also in drei europäischen Staaten. Vielleicht wird man diese Bücher nach der „Cannabis-Connection“ und dem „Tallinn Twist“ ja doch nochmal anders lesen (wobei wir manches sicher heute noch mal anders schreiben würden, aber das ist ja eine Binse).

Wir sind überzeugte Europäer, weil dieser Bund bei aller Reformnotwendigkeit und allen Ungerechtigkeiten, die er leider auch erzeugt, in einer Welt der Trumps, Putins, Xis und Bolsonaros doch eine der letzten großen Hoffnungen für eine demokratische Welt ist. Und das wird unser Schreiben ganz sicher weiterhin prägen.



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