Geschrieben am 1. Mai 2020 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2020

Bodo V. Hechelhammer: Das erste Buch #covid-19

Gespensterpatrouille

Was so eine Krise alles auslöst… Da Bodo V. Hechelhammer – der beim Bundesnachrichtendienst arbeitet – an seinem Einsatzort gerade kein aktuelles Buch zur Rezension vor Ort hatte, war es „mein alter Tom Prox, mein erstes als Kind gekauftes Buch, das mich immer angestarrt hat“. Deshalb hat er uns die Geschichte vom Buchkauf und dem ersten Erlesen aufgeschrieben. Eine Erinnerung.

Es war ein Schaufenster. Es zog meine Aufmerksamkeit immer an. Ich musste, ob ich wollte oder nicht, stehenbleiben. Es mir anschauen. Die dortigen Auslagen betrachten. Langsam. In Ruhe. Zeit war immer vorhanden. Egal, ob es in Strömen regnete oder die Sonne brannte. Das Schaufenster mit dem grellen Neonlicht der siebziger Jahre entfaltetet seine hypnotische Wirkung, besonders wenn die »Blaue Stunde«mich berührte. Dieses Zeitfenster verursachte regelrecht tektonische Erschütterungen in mir. Wenn sich beide Fenster überlappten, brannten sich die flüchtigen Eindrücke als bleibende Erinnerungen ein. Eine unverständliche Sehnsucht nach etwas kam auf, griff nach mir, ohne es überhaupt nur im Ansatz deuten zu können. Eine davon berührte das Buch. Ich hatte Angst davor, vor Cover und Titel. Ich war früher nicht sehr mutig. Aber es zog mich an. Ich musste es immer wieder sehen, mir anschauen. Es beobachten, wie es im Schaufenster des einzigen Spielzeugladens in der kleinen hessischen Stadt, von unwirklichem Licht angestrahlt wurde. Nur für mich, daran bestand kein Zweifel. Gerade wenn es langsam dunkel wurde, der Wind an meinen Anorak unaufhörlich zupfte und die schwüle Luft nach Regen roch. Alles passte zur »Gespensterpatrouille«. Ein bewaffneter Mann in kolonialer Kleidung mit Tropenhelm wurde mitten auf einer Hängebrücke angeschossen. Er schrie auf, ob er stürzte oder wieder aufstand, sah man nicht. Ich sah ihn immer nur sterben. Das gemalte Bild in seinen blaugrauen Farben, der gespenstische Titel und die sieben weißen Buchstanden »Tom Prox«, dies alles ging mir mit meinen acht Jahren einfach nicht mehr aus dem Kopf. 

Das Buch war teuer. Viel Geld hatte ich nicht. Jeder Kauf musste gut durchdacht sein; über Monate geplant. Heimlich. Und es war dick, bestimmt zehn Zentimeter. Es musste unendlich dauern, es durchzulesen. Ich war früher kein guter Leser. Preis und Umfang machten mir wieder Angst. Aber das Buch wartete auf mich. Geduldig. Über Wochen. Monate. Keiner wollte es kaufen. Während das Schaufenster immer wieder neue Ab- und Zugänge verzeichnete, harrte mein Buch aus. Es war gespenstisch. Ich schaute immer wieder nach. Aber es blieb immer auf demselben Platz. Es übte sich in Geduld. Ich hatte keinerlei Ahnung um was es überhaupt darin geht, malte mir in meinem Kopf die wildesten Abenteuer aus. Bei jedem neuen Stehenbleiben kam eine neue Geschichte hinzu. Sicher war ich mir nur, dass hier kein Kinderbuch lag.

Irgendwann war der Druck zu groß. Ich nahm mein Geld und meinen Mut und kaufte es. Es war das erste von mir selbst gekaufte Buch. Ein Richtiges. Ich war mir sicher, dass die Verkäuferin hinter der hohen Verkaufstheke aus dunklem Holz, mit den kleinen eingelassenen Glas-Vitrinen darin, mich ungläubig musterte. Sie hatte wohl ihre Zweifel, ob ich damit überhaupt etwas anfangen kann. Ob ich es verstehen, überhaupt lesen konnte. Ich war früher nicht sehr selbstsicher. Sie hatte Recht. Was wollte ich eigentlich damit. Eine Antwort kannte ich nicht. Vorsichtig unter meiner Jacke versteckt, wie ein Beutestück, dass mir eigentlich gar nicht zustand, brachte ich es nach Hause. Niemand durfte es sehen. Es hätte Fragen gegeben. Fragen, die ich nicht hören wollte, die ich nicht beantworten konnte.

In meinem Zimmer schlug ich das Buch erstmals auf. Es fühlte sich seltsam an, der weiß kartonierte Einband, die vielen Seiten waren so leicht, fast wie Balsaholz. Unwirklich. Nichts passte zusammen. Kein Buch hat sich jemals wieder so angefühlt. Es waren unglaubliche 271 Seiten, keine Bilder darin, noch nicht einmal Zeichnungen, und der Mut verließ mich sogleich. Aber ich wusste nun, dass es ein Abenteuerroman von Rolf Randall und Tom Prox der Chef der Geisterpatrouille war. Ich hatte die Namen noch nie gehört und verstand gar nichts. Ich begann zu lesen, über Igor, den Meisterdieb und den gestohlenen Todbringer, über die dreißiger Jahre und ferne Länder. Fernweh ergriff mich, obwohl ich sonst schon Heimweh bekam, wenn ich nur in die nächstgrößere Stadt fahren musste. Ich wurde von der Geschichte gefesselt, kam aber nie über das erste Kapitel hinaus. Es war wie verhext. Gespenstisch. Mich verließ immer irgendwie der Mut. Etwas hielt mich vom Weiterlesen ab. Der Ausgang der Geschichte blieb ein Geheimnis für mich. Ich fürchtete mich davor, in dieser aufzugehen und ein neues Kapitel zu beginnen.

Im Laufe der Jahre stand das Buch immer in meinem Regal. Die Regalinhalte änderten sich. Das Buch blieb. Es wartet wieder geduldig auf mich, wie früher im Schaufenster. Kein grelles Licht strahlte es mehr an, aber es bedrohte mich jetzt, strafte mich mit Verachtung. Ohne Frage. Es war ein sichtbares Zeugnis meines Versagens. Seite für Seite. Denn wenn noch nicht einmal dieses Buch gelesen werden konnte, dann konnte ich nicht viel von mir erwarten. Es dauerte Jahre und viele vergebliche Versuche das Buch durchzulesen. Ich gab aber nie auf. Es lies mich nie los. Ich musste die Gespenster bezwingen. Eines Tages war es soweit, ich erreichte plötzlich das zweite Kapitel, tauchte unerwartet ins Dritte ab und war gefangen. Ich las die »Gespensterpatrouille« in einem durch. Ich weiß nicht mehr genau, wie alt ich damals war. Was aber für immer blieb, war das einmalige Gefühl, berauscht vom ersten Eindruck einer neuen Geschichte zu sein. Lang hallten Bilder und Gefühle nach. Abenteuer wurden weitergesponnen, neue Missionen angenommen. Es blieb für mich das spannendste Buch. Lange Zeit. Es wurde mein Buch, meiner von mir entdeckten Welt. Und es erzählte von der Welt der Geheimdienste. Was das bedeuten sollte, verstand ich wiederum erst viele Jahre später. Ich konnte nicht ahnen, wie nah mir Tom Prox einmal noch kommen, wie sehr ich selbst Teil der Geschichte und einer »Gespensterpatrouille« werden sollte. Das konnte ich als Kind nicht wissen, hatte ich mit meinen Augen doch nur ein Buch gesehen. Doch in einem Schaufenster spiegelt sich zuerst das eigene Bild.

Bodo V. Hechelhammer ist heute Chefhistoriker des Bundesnachrichtendienstes (BND) und Autor der Bücher „Heinz Felfe“ und ###

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