Geschrieben am 17. Januar 2009 von für Crimemag, Kolumnen und Themen

200 Jahre Edgar Allan Poe

Klassikercheck: Edgar Allan Poe (1809 – 1849)

Tobias Gohlis über Edgar Allan Poe.

Na klar, schon zu Lebzeiten. 300.000 Raubdrucke kursierten 1843 allein von seiner Erzählung Goldkäfer. Geld hat Edgar Allan Poe dafür allerdings kaum gesehen. Gestorben ist er wie es einem poète maudit ansteht: im Delirium. Klarer konnten die Ärzte damals und können die Biografen bis heute die Todesursache nicht benennen. Zuvor soll er überfallen und der größten Summe beraubt worden sein, die er in seinem erbärmlich poveren Leben in der Hand hatte. Eine arme Sau war er.

Und ein Genie, darin wurde man sich immer einiger. Doch was für eins? 200 Jahre nach der Geburt und 160 Jahre nach dem Tod von Edgar Allan Poe ist nur unbestritten, dass er es war. Worin aber seine Genialität bestand, wird, da gleicht Poe Kafka, Joyce und Co., immer wieder neu gedeutet werden.

Der Anglist Hans-Dieter Gelfert, von dem die jüngste Biografie Poes stammt, fasst zusammen: „Sein ganzes Leben war ein Schwimmen gegen den Strom. Was ihn über Wasser hielt, war eine unbändige Willenskraft, die ihn tragischerweise immer dann verließ, wenn ihm das Glück lachte und er nur dem Strom hätte folgen müssen.“ Diese Willenskraft war gekoppelt mit einer einzigartigen Begabung zur sprachlichen Mystifizierung, nicht zuletzt seiner selbst.

Poe war ein Meister des Effekts, die einheitliche Wirkung eines Kunstwerks war ihm alles. In einer seiner vielen Literaturkritiken hat er sein Verfahren ziemlich genau beschrieben. Er nannte es das Mystische und verstand darunter „jene Kategorie von Werken, deren oberer Bewusstseins- und Meinungsstrom transparent ist und einen unteren, suggestiven durchscheinen lässt“. Tatsächlich besitzen fast alle seiner Grotesken, Arabesken, Satiren und erst recht die Detektivgeschichten eine glasklare, diaphan wirkende Oberfläche, die wie eine Vitrine wirkt. Durch sie blickt man auf die Territorien, die Poe durchforscht hat: das Grauen, den Horror, die Panik, die Ohnmacht, den Traum, den Tod, den Scheintod usw. Fast allen Albträumen des 19. Jahrhunderts hat er bildhafte Gestalt gegeben. An den ausgefeilt bizarren Szenerien dieses Magiers laben sich heute ganze Industriezweige der Kulturproduktion: Fantasy, Horror, Abenteuerroman und natürlich der Krimi.

Pyramidal

Poes Werk wurde von seinen Kollegen als eine Art achtes Weltwunder angesehen. Weshalb sie es gerne mit den Pyramiden verglichen. Sein Kollege und Zeitgenosse J.R. Lowell: „Poe hat genügend Blöcke behauen, um eine dauerhafte Pyramide zu erbauen; allerdings hat er sie nachlässig und herrenlos in vielen verschiedenen Steinbrüchen herumliegen lassen.“ Für diese Misere war Poe schlimmstenfalls zur Hälfte verantwortlich. Unter anderem gab es kein Urheberrecht, das ihm eine systematische Verwertung seiner Arbeiten erlaubt hätte. Bücher wurden raubgedruckt, Tantiemen wurde in Form von ein paar Freiexemplaren gezahlt. Poe ruinierte sich in zunehmend schlechter bezahlter Arbeit für Zeitschriften und Magazine, stand ständig unter Produktionsdruck. In Hopp-Frosch, seiner letzten Erzählung, inszeniert er die Rache eines gedemütigten Unterhaltungskünstlers. Der von seinem despotischen König zum Trinken gezwungene Zwerg überredet den Ministerrat, sich während eines Maskenballs als Orang Utans zu verkleiden, hängt diese an den Kronleuchter und verbrennt sie bei lebendigem Leibe. Conan Doyle, der Poe viel verdankt – nicht zuletzt seine Holmes-Figur samt Dr. Watson – gab sich durchaus schuldbewusst: „Wenn jeder, der einen Scheck für eine Geschichte empfängt, die in irgendeiner Form Poe verpflichtet ist, seinen Zehnten für ein Denkmal des Meisters geben müsste, hätte er eines von der Größe der Cheopspyramide.“ Gezahlt hat Doyle nie.

Ratio …

Genau, irgendwann muss dieser Begriff in einem Poe-Check fallen. Tales of Ratiocination nannte Poe seine Detektivgeschichten, „Erzählungen von logischen Folgerungen“ könnte man wörtlich übersetzen. „Rationalisierung“ haben die Psychoanalytiker gleich mitgedacht.

Mit nicht mehr als drei Detektivgeschichten begründete Poe das Genre: Die Morde in der Rue Morgue, Das Geheimnis der Marie Rogêt und Der stibitzte Brief. Poes drei Geschichten um den deduktiven Amateur Auguste Dupin sind eine, sogar eine ganz wesentliche Keimzelle der Kriminalliteratur. Wenn einer Muster des Erzählens vorgegeben hat, dann Poe: das deduktive Schlussverfahren, das Rätsel des geschlossenen Raums, die Personenkonstellation des genialen träumerischen Detektivs und seines Sidekicks, die Tatortanalyse und sogar das Profiling.

Denn was ist es anderes als Profiling, wenn Dupin sich in die mentale Disposition des diebischen Ministers versetzt, um herauszufinden, wo dieser den stibitzten Brief versteckt hat. (Poe hat auch in den anderen Bereichen seines Erzählens Muster von so umwerfender Bildhaftigkeit etabliert, dass sie bis heute ständig nachgeahmt werden. Man denke nur an seine Bilder der Ausweglosigkeit: der alles in sich hinein in die Tiefe reißende Malstrom, der lebendig Begrabene, das messerscharfe Pendel, das sich Schwung um Schwung auf sein Opfer absenkt. Ihr Einfluss auf den modernen Kriminalroman als Mischform ist eine eigene Sache.)

Es ist ein großer Erfolg Poes und Kennzeichen seiner überragenden Kunstfertigkeit, dass es ihm gelungen ist, sich als Begründer des logischen, rational schließenden deduktiven Detektivdenkens zu etablieren. Diese Sicht Poes ist weit verbreitet und wird jetzt wieder und wieder in Gedenkschriften wiederholt. Poe hat mit seinen Detektivgeschichten keine Modelle unbezwingbaren Folgerns und messerscharfer Logik geschaffen. Gerade das sind sie nicht. Was die Logik, oder auch nur die von Poe gerne strapazierte Wahrscheinlichkeit betrifft, die er manchmal sogar „Wahrscheinlichkeitsrechung“ nennt, um sie wissenschaftlicher erscheinen zu lassen, halten seine Geschichten keiner Plausibilitätsanalyse stand. Gelfert hat (nicht als erster) in seiner Biografie einige raum-zeitliche Konstruktionen Poes auseinandergenommen. Zum Beispiel hätte die arme, erwürgte Marie Rogêt Poes Maßangaben nach eine Riesin sein müssen. Wie viele andere hat er aber vermieden, eine Antwort für das Rätsel zu versuchen. Warum begeht jemand, der das logische Folgern zum Thema des Erzählten macht, recht leicht zu durchschauende logische Fehler?

Blendend opak

Blickt man hinter die Vitrine von Poes Detektivgeschichten, erzählen sie eine ganz andere Geschichte. Die ist schwer zu erkennen, weil die Vitrine der ratiocination wie Kristallglas glänzt und dadurch opak ist. Blendend opak sind sie. Liest man sie neu, fallen einem die Nebensachen auf. Sie funktionieren wie Zaubertricks, und zwar wie richtig gute, in denen der Magier, hier Dupin, den Trick vorher ansagt. Jede Geschichte wird erzählt, um eine andere Ratiocinierungsthese Dupins zu belegen. In der Rue Morgue, der ersten der drei Detektivgeschichten, lautet sie: „In Untersuchungen, wie wir sie augenblicklich durchführen, sollte nicht so viel gefragt werden, ‚Was ist passiert?’, sondern vielmehr, ‚Was ist passiert, das nie zuvor passiert ist?’.“ Diese Ansage macht Dupin, bevor er weitschweifig und umständlich seine Auflösung des Falles der Morde in der Rue Morgue in einem geschlossenen Raum im vierten Stock eines Pariser Wohnhauses vorstellt. Alles ist auf den Überraschungseffekt, auf die Präsentation der überwältigenden Lösung ausgerichtet. Bevor Dupin sie präsentiert, wedelt er noch mit dem weißen Taschentuch: Für einen bestimmten Zeitpunkt prognostiziert er die Ankunft eines ganz bestimmten Mannes, von dem weder der demütig lauschende Erzähler, noch sonst jemand je etwas gehört hat. So erzeugt man Spannung! So verknüpft Poe die weitschweifig-umständliche Deduktion des rätselhaften Falles mit der Frage: ob der Mann kommen wird. Und mit der Lösung wird einsichtig, dass dieser Besucher ein Matrose sein muss – und nicht ein Pfarrer oder ein Zeitungsbote. Einer hätte bestimmt nicht geklingelt: ein Schriftsteller.

Denn das pompös angekündigte Ereignis, das „nie zuvor passiert ist“, ist nicht der in jeder Hinsicht höchst unwahrscheinliche Orang Utan, der erst aus Nachahmungstrieb zwei Frauen totrasiert und die Leichen dann aus Scham in den Kamin stopft, den uns Dupin als Lösung offeriert. Sondern das Ereignis ist der Taschenspieler. Nie zuvor hat man einen Autor gelesen, der gleich dreifach kunstfertig ist. Er kann nicht nur ein derart komplexes Rätsel wie das des geschlossenen Raumes erfinden, er versteht es auch wieder aufzudröseln und vermag dabei den Leser durch ein völlig neuartiges Erzählen zu fesseln.

Mir scheint, dass es Poe auf das, was an seinen Detektivgeschichten so bewundert wird, nämlich das Logische, Deduktive und Detektivische in erster Linie gar nicht ankam. Als erstem radikalen Verfechter des l’art pour l’art ging es Poe im Kern um die gelungene perfekte Vorführung seines Tricks. Um Überwältigung durch eine Rhetorik des scheinbar Logischen. Deduktion als Show. Dafür spricht nur der etwas penetrante Gestus des Allwissenden, alle Wissenschaften lässig beherrschenden Amateurs. Auch die Erzählweise trumpft auf: eine „Schlussfolgerung“ übertrumpft die vorausgehende und unter dem Spannungsdruck der Rätsellösung kommt keiner (außer ganz pingeligen Pedanten) auf die Idee, Poes Maße und Hypothesen zu überprüfen.

Diddler

Ziemlich tief zwischen den verstreuten Blöcken von Poes Werk verborgen kann man auch einen Hinweis finden, der diese Idee vom Show-Denken untermauert.

Poe war ungemein belesen und zudem ein an allem Schwarzromantischen hoch interessierter Literaturkritiker. Er hat sich ausführlich mit Dickens und Bulwer-Lytton beschäftigt, deren Erzählweisen seinem l’art pour l’art eigentlich fern lagen. Erstaunlich wenig hat er hingegen über den Autor geschrieben, der in vielem und besonders in der Amoralität der Kunstausübung sein Geistesverwandter war. Hat Poe Thomas de Quincey, dessen Murder Considered as o­ne of the Fine Arts ebenfalls eine kanonische Quelle der Kriminalliteratur ist, überhaupt gekannt? Er hat de Quincey nur einmal in seinem umfassenden Werk namentlich erwähnt. Aber eine Groteske spielt im Untertitel direkt auf de Quincey an. Sie heißt Diddeln und kommt auf den ersten Blick ziemlich albern daher. Vermutlich würde man Diddeln als anspruchsloses Feuilleton über Techniken des Schwindelns und Betrügens vergessen, hätte es nicht diesen Untertitel Diddling as o­ne of the Exact Sciences, der deutlich auf de Quinceys 1827 veröffentlichten Essay über Mord als eine der feinen Künste betrachtet verweist.

Poe geht es in Diddeln um mehr als nur eine kleine Phänomenologie des Schwindlers. Das verrät die neckisch in pseudowissenschaftlichem Stil verpackte Bemerkung, Jeremy Diddler, der dem Diddeln seine Bezeichnung gegeben habe, sei „ein großer Mann in großem Stil“ gewesen. Immer wenn Poe von männlicher Größe redet, meint er es verdammt ernst.

Mythos Detektiv

Schmälert der Gedanke, bei den Tales of Ratiocination handele es sich um diddling auf höchstem Niveau, den erhabenen Klassikerstatus Poes? Nö. Denn so lassen sich die Wirkungsmächte viel besser erklären, die aus seinen drei Detektiv- und einer Schatzsuchergeschichte den Mythos des Detektivs haben entstehen lassen. Um es kurz zu machen: Sie wirken gerade deshalb, weil sie ein paar sehr grundlegende Sehnsüchte moderner Menschen ansprechen und diese als Leser auch an ihrer träumerischen Verwirklichung teilhaben lassen. Traum ist das Stichwort: Dupin, der wenig Geld besitzt (aber die erstaunlichsten Beziehungen in höchste Kreise pflegt, etwa zum Minister, der den die Krone kompromittierenden Brief geklaut hat) und sein wohlhabender Sidekick hängen am liebsten rum und träumen. Zielloses Rumphilosophieren in einer tagsüber verdunkelten Wohnung und auf nächtlichen Spaziergängen ist ihr einziges und vollständiges Vergnügen, das nur dann durchbrochen wird, wenn Dupin Fälle zu lösen hat. Mit jedem Fall steigert sich der Erfolg ins Märchenhafte. Im ersten Fall, den Morgue-Morden, gewinnt der vorgeblich an allem Materiellen völlig desinteressierte Dupin hauptsächlich Ansehen und Bewunderung. Im dritten Fall streicht er aber bereits eine erhebliche Belohnung ein, die für einige Jahre nächtlichen Träumens reichen dürfte. Das ist, um ein bisschen zu kalauern, das kulturelle Kapital der Deduktion.

Bezeichnend ist, dass Poe seinem Dupin genau jene Gaben verleiht, die er selbst als höchste und einzige Fähigkeiten seiner eigenen Persönlichkeit stolz in allen widrigen Stromschnellen seines Lebens hochgehalten hat: die Fähigkeit zur dichterischen Imagination. Denn die und nicht die des rationalistischen Knobelns macht den wahren Detektiv und Dichter aus. Wenn man so will, ist in den drei Detektivgeschichten ganz hegelisch mit These, Antithese etc. Poes praktische poetische Methode durchdekliniert. Ad Eins (Morgue): Entdecke im Gewöhnlichen das Ungewöhnliche. Ad Zwei (Marie Rogêt): Durchschaue das Außergewöhnliche als Schein. Ad Drei (Brief): Dichterische Imagination schlägt formelhafte Routine.

Schnelles Geld

Die Schatzsuche im Goldkäfer folgt auf die drei ersten Geschichten als Satyrspiel. Hier wird dem bass erstaunten – und bezeichnenderweise um die geistige Gesundheit des ebenfalls vor sich hin träumenden Meisterdetektors besorgten – Erzähler vorgeführt, wie man den Poeschen Masterplan anwendet. Man muss nur einen Zettel finden, genug schräges Wissen im Kopf präsent haben, um ihn als Schatzplan zu erkennen, und ein paar kryptologische Kenntnisse, um ihn zu entziffern, dann findet man den Schatz des Piraten auf dem Weg durch Busch, Baum und Tal, den dieser über hundert Jahre zuvor skizziert hat, unverändert und golden glitzernd vor.

Es sind herrlich kindliche Sehnsüchte nach Macht und Reichtum, die Poe hier mit der Wunschträumerei des Underdogs mischt, der er auch war. Das war sein Lebenstraum, sich möglichst ohne jede Anstrengung auf einem Gebiet als der Überlegene zu erweisen, wohin ihm kein anderer folgen kann: dem des Geistes. Aus diesem unerfüllten Lebenstraum wurden dann all die Poirots und Wimseys, Holmes’ und Philo Vances gebacken, die reich und klug oder nur klug und immer in bester Gesellschaft und überlegen und allwissend waren: mitreißende Schwindler alle, und weit, weit entfernt von der rüden Arbeitswelt der Polizei. Aber keiner hat so überwältigend geschwindelt wie Edgar Allan Poe.
Der Begriff „Detektiv“ kommt übrigens in Poes Werk nicht vor.

Tobias Gohlis

Tag und Nacht auf crime mit Tobias Gohlis