Geschrieben am 5. August 2019 von für Allgemein, Litmag, NATUR Special, Specials

Susanna Mende: Annie Proulx „Aus hartem Holz“

Mehr als jede Heldengeschichte

Susanna Mende über den Roman „Aus hartem Holz“ von Annie Proulx

Annie Proulx, eine Virtuosin der amerikanischen Kurzgeschichte und berühmt geworden durch ihren mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten ersten Roman „Schiffsmeldungen“ und die Verfilmung ihrer Erzählung „Brokeback Mountain“ (Ang Lee, 2005), hat mit ihrem jüngsten Werk „Aus hartem Holz“ einen historischen Roman vorgelegt, der in mehrfacher Hinsicht gewaltig ist: Mit seinen knapp neunhundert Seiten gewaltig im Umfang, mit den dreihundertzwanzig Jahren nordamerikanischer Geschichte, die er umfasst, gewaltig in seiner historischen Dimension, und das vor der Kulisse scheinbar endloser Wälder des heutigen Kanadas und der nordöstlichen Staaten der USA, die durch einen gewaltigen wirtschaftlichen Boom zu großen Teilen zerstört wurden. Gewaltig sind auch die Anstrengungen der von ihr beschriebenen Menschen, die sich, mit Äxten bewaffnet, daran machen, riesige Wälder abzuholzen, um Nutzholz zu schaffen, und im Zuge dessen den Lebensraum der Ureinwohner unwiederbringlich zerstören. Das alles schildert Annie Proulx so sprachgewaltig und eindringlich, dass man nach der Lektüre erfüllt und gleichzeitig erschöpft in seinen Sessel sinkt und noch Tage später den Geruch von Kiefern und Waldboden in der Nase und das wilde Rauschen reißender Flüsse und das unaufhörliche Klopfen und Hämmern der Waldarbeiter im Ohr hat.

Es ist eine Familiensaga zweier Familien, die Ende des siebzehnten Jahrhunderts damit beginnt, dass zwei Männer, Charles Duquet und René Sel, sich aus der alten Welt in die neue Welt, genauer gesagt, von Frankreich nach Neufrankreich (hier das Gebiet um den Sankt-Lorenz-Strom und des sich daran anschließenden Akadien, dem heutigen Ostkanada) aufmachen. Zu Beginn mittellos, verdingen sie sich als sogenannte Schuldknechte (der englische Begriff, „barkskins“, ist der Titel der Originalausgabe) bei einem Grundbesitzer, um sich so ein Stück Land zu erarbeiten. Der eine, Charles Duquet, macht sich vorzeitig aus dem Staub, während der andere von seinem Herrn nicht nur gegängelt und gequält, sondern schließlich auch zur Hochzeit mit Mari, einer Indianerin vom Stamm der Mi’kmaq, mit der dieser zuvor jahrelang in wilder Ehe lebte, gezwungen wird.

Während Duquet, der nach seiner Flucht seinen Lebensunterhalt mit dem Handel von Tierfellen bestreitet, nach ein paar Jahren in den aufblühenden Holzhandel einsteigt und schließlich ein eigenes Unternehmen gründet, das unter dem Namen Duke & Sons auch den nachfolgenden Generationen Wohlstand und gesellschaftliche Anerkennung bringen wird, haben René Sel und seine Nachfahren, die zur Hälfte indianisch und somit einer unerbittlichen Diskriminierung durch die wachsende Zahl weißer Siedler ausgesetzt sind, nicht so viel Glück, und der Leser erlebt über die Generationen hinweg sowohl die Entfremdung von der indianischen Kultur als auch den Verlust des Lebensraums mit, den sich die eingewanderten Europäer rücksichtslos unter den Nagel reißen. 

Annie Proulx ist allerdings eine viel zu souveräne Erzählerin, als dass sie den moralischen Zeigefinger erheben würde, wie sie auch immun gegen jede Form von Heroismus ist, sondern im Gegenteil zeigt, wie grausam und verfrüht zahlreiche Schicksale von Auswanderern enden, die voller Hoffnung zu einem neuen Kontinent aufgebrochen sind. Ihre Schilderungen entbehren nicht einer gewissen Drastik und Brutalität, die nur scheinbar im Kontrast zu dem hohen Grad an Sinnlichkeit stehen, mit der Pflanzen, Tiere, Naturphänomene, Nahrungsmittel, Gerüche etc. beschrieben werden, und die schon ihre früheren Romane und Erzählungen auszeichnet. Schmerz, Gewalt und Tod sind hierbei nur die andere Seite der Medaille all dessen, was menschliche Erfahrungen ausmacht. Und doch sind Szenen, in denen ein Waldarbeiter von einer davonfliegenden Axtklinge enthauptet oder ein Trifter auf dem Fluss zwischen Baumstämmen zerquetscht wird, eine stete Erinnerung an die Vergeblichkeit menschlichen Tuns, eine – wie es bei Proulx scheint – eher gelassene, als schockierte Erkenntnis, die sie dem Roman als Motto – ein Zitat des spanisch-amerikanischen Philosophen George Santayana – voranstellt: „Warum sollten die Dinge nicht weitgehend absurd, sinnlos und vergänglich sein? Sie sind es, und wir sind es, und wir passen sehr gut zusammen.“

Der Roman ist in zehn Bücher aufgeteilt, die jeweils einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten umfassen und abwechselnd das Leben der beiden Familien erzählen. Das erste Buch umfasst den Zeitraum von 1693 bis 1716, das zweite den von 1693 bis 1727, in dem von Duquets Etablierung als Geschäftsmann erzählt wird, das dritte beginnt dann im Jahr 1724 und führt die Geschichte von Réné Sel fort. Das zeitliche Verweben der einzelnen Bücher ermöglicht es der Autorin, in der Handlung vor- und zurückzuspringen, um den Figuren zu folgen, wenn sich ihre Wege trennen und irgendwann wieder kreuzen, denn es sind keine sich unabhängig voneinander entwickelnde Familiengeschichten, sondern sie verbinden sich an einem Punkt durch die Eheschließung zwischen einem Sel und einer Duquet, die über Generationen hinweg in Vergessenheit gerät und erst viel später, als es um Erbschaftsansprüche geht, wieder Bedeutung erlangt. 

Die einzelnen Bücher können theoretisch als eigenständige Romane gelesen werden, sind es doch jeweils abgeschlossene Lebensphasen, die darin Eingang finden. Proulx lässt es sich nicht nehmen, das alltäglich Leben in all seinen Details dem Leser zu schildern, um dann manchmal recht unvermittelt Zeitsprünge zu vollziehen, die diesen zur nächsten Generation führen. Diese Fülle an Personal und Ereignissen bringt den Leser im Laufe der Lektüre manchmal in die Gefahr, den Überblick zu verlieren. Hinzu kommt, dass Annie Proulx extrem sparsam mit der Erwähnung realer historischer Ereignisse ist. Die Napoleonischen Kriege (1792-1815) werden nur kurz gestreift, Bürgerkrieg (1861-65) oder Spanisch-Amerikanischen Krieg (1898) finden gar keine Erwähnung, und von den beiden Weltkriegen scheinen beide Familien ebenfalls kaum berührt zu sein.

Dem technologischen Fortschritt wird hingegen eine viel größere Bedeutung beigemessen: der Bau des Eriekanals, das Dampfschiff, die Eisenbahn, die Telegraphie, Holzerntemaschinen, das rasante Anwachsen der Städte (die Dukes ziehen erst von Boston nach Detroit und dann nach Chicago um). Es wundert nicht, dass Annie Proulx zehn Jahre gebraucht hat, um den Roman zu schreiben, wenn man die vielen Details bedenkt, die sie einfließen lässt, Kenntnisse der Fortwirtschaft, indianischen Kulturen, Seefahrt, Holzindustrie und vieles mehr … In einem Essay für die New York Times bekennt sie selbst: „I am an inveterate buyer of useful books on all possible subjects (…) On the jumbly shelves in my house I can find directions for replacing a broken pipe stem, a history of corncribs, (…), a 1925 copy of „Animal Heroes of the Great War“ (…) I need to know which mushrooms smell like maraschino cherries and which like dead rats, to note that a magpie in flight briefly resembles a wooden spoon …“

Über ein Jahrhundert nach der Gründung der Holzfirma Duke & Sons führt Lavinia, eine Nachfahrin von Charles Duquet, die Geschicke der Firma ehrgeizig und mit eiserner Hand fort. Ihre Heirat mit dem deutschstämmigen Forstexperten Dieter Breitsprecher legt den Grundstein für den wachsenden Erfolg des Familienunternehmens im 20. und 21. Jahrhundert. Doch Lavinias Wohlstand und Einfluss schützen sie nicht vor plötzlichen Schicksalsschlägen, mit denen die Autorin ihre Leser in Atem hält. 

Der Sel-Familie ergeht es währenddessen viel schlechter. Sie befinden sich im fortwährenden Kampf mit Kräften, gegen die sie nichts ausrichten kann; die Trostlosigkeit einer Existenz von der Hand in den Mund und der ungleiche Kampf zwischen ihrer indigenen und der europäischen Kultur machen sie zu typischen Vertretern einer ausgebeuteten, entwurzelten Kultur. 

Auf den letzten hundert Seiten führt Proulx den Leser in die Gegenwart, nur dass die Handlung auf einmal noch stärker vorangetrieben wird, so als führe man zu schnell durch eine Landschaft, in der alles leicht verschwimmt. 

Während der Lektüre wird deutlich, dass Annie Proulx den Wald zu einem ganz eigenen Protagonisten stilisiert, ihn zu dem zentralen Ort macht, an oder von dem ihre wenigen Haupt- und zahlreichen Nebenfiguren leben, der den einen Wohlstand und den anderen  einen fortwährenden Existenzkampf oder gar den Tod beschert. Und wenn am Ende nicht mehr viel von den scheinbar unerschöpflichen Wald übrig ist und die Holzfäller weiter gen Westen ziehen, erzählt uns das mehr über die Besiedlung des nordamerikanischen Kontinents als irgendeine Heldengeschichte. 

Susanna Mende

  • Annie Proulx: Aus hartem Holz (Barkskins, 2016). Deutsch von Melanie Walz und Andrea Stumpf. Taschenbuchausgabe: btb Verlag, München 2017. 889 Seiten 12 Euro. Verlagsinformationen.

Susanna Mende hat Hispanistik, Germanistik und Kunstgeschichte studiert. Seit 1998 ist sie Übersetzerin für spanische und englische Literatur. Literaturkritikerin (mit Schwerpunkt Kriminalliteratur) für verschiedene Print- und Onlinemedien. Lebt und arbeitet in Berlin. Seit einigen Jahren beschäftigt sie sich mit der Geschichte der deutschen Auswanderung in die USA (mit Schwerpunkt New York). Zuletzt hat sie unter anderem den vielbeachteten Roman „Bluebird, Bluebird“ von Attica Locke übersetzt. – Ihre CulturMag-Texte hier.

Anm. d. Redaktion: Karl Marlantes (What it is to Go to War; Matterhorn) hat gerade brandneu eine Saga draußen: Deep River, eine aus der eigenen Herkunft inspirierte russisch-finnische Immigrantengeschichte über mehrere Generationen im Pazifischen Nordwesten der USA.

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