Geschrieben am 10. Mai 2020 von für Allgemein, Litmag, News, SHUT DOWN 2020

Maria Irod: Trauer in Zeiten von Corona


Culturmag Special SHUT DOWN 2020


TRAUER IN ZEITEN VON CORONA

Innehalten – heute mal keine Nachrichten, einfach mal offline, weg vom Stay-connected-Zwang. Meine Augen auf die Wand gerichtet: abblätternder Putz, das Vergehen der Zeit. Mein fünfjähriges Selbst schaut mich aus dem siebenunddreißig Jahre alten Bildnis an. Wie mit der Kamera eingefangen – verewigte Vergänglichkeit.
Ich stöbere in meinem Gedächtnis wie im Spielzeugkasten. Lichtflecken an der Wand und ein unerbittliches Grün draußen – damals wie heute. Lockungen und Gefahren.
Der Maler verlangsamte seine Handbewegungen, seine fünfjährige an Mumps erkrankte Nichte starrte ihn an. Im Bildkörper ist die Krankheit nicht sichtbar; das rosafarbene Fleisch, der zeitlos-erwachsene Blick des Mädchens – eine Illusion.
Die Zeit lehnt sich an den Zaun und gähnt. In meinem Kopf wohnen alle Erinnerungen in diesem alten von Weinlaub umrankten Haus zusammen.
„Ich ziehe mich hinter die Welt zurück / eine Wand wächst in meiner eigenen Haut / wie unberührter Lehm / ich ziehe mich zurück, ich träume nicht.“ Seine letzten Worte.
Dem Maler reicht die Luft nicht mehr aus. Der Atem stockt. Die Zellen zittern vor Angst. Unsichtbare lebende Materie, so wandelbar wie seine abstrakten Bilder, brütet seinen Tod.

Die Vergangenheit ist die Gegenwart in uns.


Maria Irod



Maria Irod, 42, Literaturwissenschaftlerin, lebt in Bukarest. Das von ihr digital bearbeitetes Bild stammt von Traian Mocanu (1954-2020), einem Maler und Dichter, der in Folge einer Covid-19-Infektion verstorben ist.


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