Geschrieben am 21. Juli 2018 von für Allgemein, Litmag, News, ReiseMag 2018, Specials

Joanna Kopp: Südamerikanisches Tagebuch

joanna und esel

 

Joanna Kopp:
Südamerikanisches Tagebuch

Die erste große Reise durch die Welt: Ein besonderer Moment – und im ganzen Leben nicht mehr wiederholbar. Wir haben Joanna Kopp, die nach ihrem Matura-Abschluss nach Südamerika gefahren ist, gebeten, uns Ausschnitte aus ihrem Tagebuch zur Verfügung zu stellen. Joanna kommt aus dem Tessin, der italienischen Schweiz, ihre Eltern sind Deutschschweizer. Die Einträge zur ersten Etappe ihrer Reise, eine Tour durch Patagonien, hat sie freundlicherweise für uns aus dem Italienischen ins Deutsche übersetzt.

20.02.2018 – Buenos Aires (ARGENTINIEN)

Wow, ich bin in Buenos Aires! Obwohl ich mich in diesem Moment, um ganz ehrlich zu sein, eher traurig und ziemlich allein fühle. Meine erste grosse Reise, das erste Mal in Südamerika und in einer Millionenstadt: Was soll ich damit überhaupt anfangen?
Der erste Tag, den ich hier verbracht habe, war ein Sonntag, und ich musste nicht ohne Erstaunen feststellen, dass die Strassen komplett leer waren (wohl auch wegen der Hitze); sicher nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Nach etwa zwanzig Minuten, die erste Zeit, die ich ausserhalb des Hotels verbrachte, traf ich ein deutsches Paar, das sich gerade die Hosen putzte. Als ich mich ihnen näherte, erklärten sie mir, das sei ein Trick: Jemand besprüht dich mit Senf, sagt dir dann, du seist schmutzig und tut so, als würde er dir helfen. Dabei versucht er natürlich etwas aus deinem Rucksack oder deiner Hosentasche zu klauen. Na wunderbar. „Willkommen in Buenos Aires“, habe ich mir gedacht…
Ich habe dann das Microcentro mit der Casa Rosada und der Plaza de Mayo besucht und später das unglaubliche, achtstöckige Kunstmuseum Centro Cultural Kirchner, mit dem eindrücklichen Konzertsaal in der Halle. Auf dem Weg zurück ins Hotel habe ich einen etwa achtjährigen Jungen mit einer Zigarette im Mund über die Strasse laufen gesehen. Er hat etwas geschrien, die fahrenden Autos schienen ihn nicht zu kümmern. Das hat mich irgendwie traurig gestimmt.
Ich wollte noch zum Essen ausgehen, bin aber eingeschlafen und erst um halb zwei in der Früh wieder aufgewacht, wohl zu spät fürs Abendessen.
Gestern bin ich durch das anmutige Quartier San Telmo spaziert und am Nachmittag habe ich mich einer interessanten Free walking Tour durch das Viertel La Recoleta angeschlossen. Nach der Tour bin ich mit einem sympathischen kanadischen Ehepaar und einer Frau aus London Abendessen gegangen. Es hat mich gefreut, den Abend mit jemandem zu verbringen: Ich merke, wie ich nach zwei Tagen alleine schon Lust habe, mit jemanden zu reden und etwas zu unternehmen.
Ich bin glücklich, dass morgen Abend die Patagonien Tour beginnt, ich komme irgendwie noch nicht so klar mit dem Organisieren der Reise und fühle mich ein bisschen verloren.

22.02.2018 – Ushuaia (ARGENTINIEN)

Ushuaia
Zwei Tage haben wir in Ushuaia verbracht – so schön!
Während meinem letzten Tag in Buenos Aires habe ich noch eine Demo der Taxifahrer gegen Uber gesehen. Das war sehr interessant: ein Haufen Taxis, die die Strassen blockierten, Polizei, Musik mit Trommeln und Trompeten, Fahnen. Ich glaube, es gibt in Buenos Aires fast täglich eine Demo oder einen Streik.
Am Abend hatte ich dann alle Teilnehmer der Gruppe kennengelernt (sie scheinen sehr nett zu sein) mit der ich am Tag danach nach Ushuaia geflogen bin.
Der Flug war ziemlich abenteuerlich, vor allem die Landung bei Windstärken von 40 km/h und die Flugzeugflügel, die sich sichtlich auf und ab bewegten. Meine Nervosität hielt sich eigentlich noch in Grenzen, aber als mein Sitznachbar zur linken die Papiertüte herauszog und sich entschuldigte, er müsse sich vielleicht übergeben, und der zur rechten anfing tief ein- und auszuatmen, wurde auch ich plötzlich ein bisschen nervös.
Gestern sind wir vor allem durch Ushuaia spaziert, das mich ein bisschen an Grönland oder Norwegen erinnert, obwohl ich bisher an keinem der beiden Orte war.Tierra del fuego
Heute sind wir in den Parque Nacional Tierra del Fuego wandern gegangen: Die intensiven und satten Farben der Vegetation, das klare Meerwasser, der raue Wind – unglaublich schön! Ich kann mich für so grosse Städte wie Buenos Aires einfach nicht gleich begeistern wie für die Schönheit der Natur, die ich z.B. hier in Ushuaia angetroffen habe. Es ist schwer zu beschreiben ohne sich pathetisch anzuhören, aber die Wahrnehmung der Natur und die Emotionen, die sie in mir auslöst, sind viel intensiver und ehrlicher.

01.03.2018 – El Calafate (ARGENTINIEN)

Torres del Paine
Schon ist es März!
Nun sind wir wieder in El Calafate, nach drei fantastischen Tagen im Nationalpark Torres del Paine.
Von El Calafate sind wir zuerst nach Puerto Natales (Chile) gefahren, wo wir eine Nacht verbracht haben. Wenn man von Argentinien nach Chile über die Grenze fährt, muss man das ganze Gepäck kontrollieren lassen und deklarieren, dass man z.B. keine Früchte, Fleisch oder Tiere dabei hat. Dann benötigt man natürlich noch einen Stempel auf dem Pass, wie auch beim Ausreisen.
Von Puerto Natales sind wir dann in den Nationalpark gefahren und haben gleich die erste Wanderung zum Mirador las Torres gemacht, zusammen mit unserem Tourguide und einem local Guide. Am zweiten Tag sind wir zum Mirador Lago Grey gewandert und am dritten Tag haben wir einen Teil des bekannten W-Trekkings gemacht. Schwer zu sagen, welche Wanderung mir am besten gefiel. Die Landschaften sind immer wieder anders, jede auf ihre eigene Art und Weise eindrücklich und wunderschön. Übernachtet haben wir in Zelten, was natürlich das Ganze noch abenteuerlicher gemacht hat.
Am letzten Tag sind wir ziemlich lange ums Feuer gesessen, haben dazu Marshmellows gebraten und die gute Stimmung genossen. Als der Mond am Himmel über uns erschien, hat jemand der Gruppe gesagt, in etwa drei Tagen sei Vollmond. In der Schweiz benutzte ich immer den Buchstaben a und z (in Schreibschrift) „Trick“, um zu wissen, ob der Mond ab- oder zunehmend ist. Als ich dann das gleiche Spiel anwenden wollte, ist mir plötzlich aufgefallen, dass es hier ja umgekehrt ist. Es war irgendwie lustig, wie mir auf diese Weise richtig bewusst wurde, dass ich mich jetzt auf der Südhalbkugel befinde.
Heute haben wir den Glaciar Perito Moreno gesehen – ein Highlight nach dem anderen! Der Gletscher ist riesig und ein Weg führt um die ganze frontale Eiswand herum. Wir haben einige Eisblöcke ins Wasser fallen gesehen, was sehr laut und eindrücklich war.

04.03.2018 – El Chaltén (ARGENTINIEN)

El Chaltén: Startpunkt für viele Wanderungen und Expeditionen zu den berüchtigten Bergen Cerro Torre und Fitz Roy.
Nach zwei Wochen klarer Sicht hat das Wetter gestern leider nicht mitgespielt. Wir haben eine Wanderung gemacht und hätten eigentlich einen Aussichtspunkt erreichen sollen, von wo man eine super Sicht auf den Fitz Roy hat. Da es die ganze Zeit regnete, mussten wir uns mit einem nassen Wald und einem bewölkten Himmel zufrieden geben. Ich war ziemlich enttäuscht. Unser Tourguide hat gesagt, der Aussichtspunkt sei einer seiner Lieblingsplätze in Patagonien.
Am Nachmittag hat es dann aufgetan und ich bin zum Mirador del Condor gelaufen – zum Glück! Ich konnte doch noch die ganze Bergkette bestaunen mit dem Fitz Roy, der majestätisch herausragt! Der Cerro Torre war leider immer noch in den Wolken, aber trotzdem konnte ich irgendwie nachvollziehen, warum dieser Ort so viele Bergführer und -steiger anzieht und verführt.
Heute haben wir eine lange Busfahrt nach Perito Moreno (Stadt) vor uns. Die Weite Patagoniens ist unglaublich: Kilometerweit keine Stadt, nur raue Ebene… Was heisst, wenn man irgendwo hin will, kommt man um eine lange Fahrt nicht herum.

Patagonien

06.03.2018 – Puyuhuapi (CHILE)

Gestern haben wir nach einer langen Busfahrt eine Nacht in Coyhaique verbracht. Auf dem Weg dorthin haben wir die Cueva de las Manos besucht, eine Höhle mit bis zu neuntausend Jahre alten Wandmalereien – vor allem Hände, aber auch Jagdszenen mit Guanakos, die hier in der patagonischen Steppe überall sind. Leider sieht man ab und zu auch tote Guanakos – oder was davon übrig bleibt – über einem Zaun hängen, nach einem gescheiterten Versuch darüber zu springen. Die Steppe ist voller niedriger trockener Grasbüschel, die dem harschen Wind Widerstand leisten. Beim Sonnenuntergang auf dem Weg nach Coyhaique färbten sie sich golden, und die ganze Ebene war in ein wunderbar warmes Licht getaucht. Eine raue und karge Landschaft, und doch ein so schöner Anblick!
In Coyhaique mussten wir wieder einmal eine halbe Ewigkeit an der Kasse des Supermercados anstehen, obwohl man sogar mit einer contactless Karte problemlos zahlen konnte (anders als in Argentinien, wo man zuerst den Ausweis zeigen, dann den Pin eingeben und zuletzt noch unterschreiben muss – komplizierter geht‘s fast nicht). Ich hab noch nicht genau verstanden, woran das Problem in Chile liegt, aber ich musste bis jetzt immer lange anstehen.
Während der Fahrt nach Puyuhuapi haben sich die ganze Umgebung und Vegetation total verändert: Plötzlich befanden wir uns nicht mehr in der kargen Steppe, sondern in einem dicht bewaldeten Gebirge, fast im Regenwald.
Vor etwa zwei Stunden sind wir in Puyuhuapi angekommen: Wir übernachten in der Hosteleria Alemana, ein von einer ursprünglich deutschen Familie geführtes Hotel. Puyuhuapi ist ein kleines, von Deutschen im Jahre 1935 gegründetes Dorf, das laut Wikipedia etwa 535 Einwohner zählt. Es liegt direkt an einem Fjord und ist von Hügeln umringt.
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Als wir hier ankamen, hatte ich mehr denn je das Gefühl „in the middle of nowhere“ zu sein. Nicht nur geografisch, sondern auch zeitlich fühlt man sich hier in eine andere Welt versetzt. Im Minimercado liegen unzählige aufeinander gestapelte Kisten mit Esswaren herum und der Gesamtbetrag des Einkaufs wird noch mit dem Taschenrechner zusammengezählt. Wenn man eine Quittung bekommt, dann ist das ein kleiner Zettel, auf dem Datum und Betrag von Hand ausgefüllt werden. Na gut, ich komme mir zum Teil ein bisschen verwöhnt und naiv vor, wenn ich über einen handgeschriebenen Kassenbeleg schmunzeln muss, denn in manchen anderen Ländern ist es wohl so…

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15.03.2018 – Valparaíso (CHILE)

Sonne, Shorts, Südamerika – was will man mehr?
Valparaíso scheint ein einziges Freilicht-Streetartmuseum zu sein! Und ich dachte, als wir unsere Familienreise nach Brüssel gemacht haben, dass es dort  viele Wandbilder gibt! Da muss man schon mal hierher kommen, an jeder Ecke findet man ein Bild; sogar individuell bemalte Treppenstufen ergeben zusammen eins.
Die Stadt selbst ist sehr lebhaft und die bunten Häuschen – zum Teil sehr gepflegt,  im Kolonialstil, zum Teil eher wie Favelas – sind über alle Hügel verteilt. Immer wieder kommt man an einem „Ascensor“ vorbei, der knatternd die steilen Abhänge hinauf- und hinabfährt. Supermärkte könnte man in dieser Stadt auch weglassen, denn alles, was man braucht, findet man auf der Strasse: von Haushaltsmitteln bis zu Früchten und Gemüse, von Hundenäpfchen bis zu Schokoladenriegel, von Schuhen bis zu Oliven! Auch an Elektrogeräten fehlt es nicht: USB Kabel, Computer ohne Akku, Telefone. Ich habe sogar mein erstes Handymodell gefunden, ein klappbares, rotes Samsung, das ich vor etwa zehn Jahren gekauft habe… Ob all diese Sachen überhaupt noch funktionieren ist eine andere Frage.

15.03.2018 – Santiago de Chile (CHILE)

Santiago de Chile
Gestern sind wir in Santiago angekommen, eine Grossstadt, die mir im Vergleich zu Buenos Aires supergut gefällt! Vom Cerro San Cristóbal hat man eine wunderbare Sicht, und man sieht ganz deutlich, dass die Stadt inmitten der Anden liegt. Das Stadtzentrum ist freundlich und einladend und die Leute kommen mir sehr nett vor.
Schon ist fast ein Monat seit meiner Ankunft in Südamerika vergangen. Irgendwie verändert sich beim Reisen die Wahrnehmung der Zeit: Sie fliegt dahin, und doch scheint sich an den Tagen selbst eine neue Zeitdimension zu öffnen, in der alles länger dauert. So viele Eindrücke und Impressionen in einem Monat, das ist unglaublich! Ich habe das Gefühl, jeden Tag ein Highlight erlebt zu haben. Die Patagonien Tour war super, aber jetzt freue ich mich aufs alleine Reisen! Die ganze Organisation an die Hand zu nehmen, selber entscheiden, wo ich wie viele Tage  verbringen will, neue Leute kennen  lernen und in Hostels  übernachten: Es wird anders sein, aber ich bin mir sicher, dass es mindestens so abenteuerlich und beeindrucken sein wird!

 

Joanna Kopp: Geboren 1998, aufgewachsen mit drei älteren Brüdern in Castel San Pietro, Tessin, machte 2017 ihre Matura, jobbte im Weinladen und reiste dann von Februar bis Juni alleine durch Südamerika. Ab Herbst 2018 studiert sie an der Universität Zürich Psychologie und Sprachwissenschaften. Alle Fotos wurden von Joanna aufgenommen.