Geschrieben am 18. November 2022 von für Allgemein, News, Special Sozialberufe, Specials

Fernab des Systems ein Lächeln

Fernab des Systems ein Lächeln

Ich unterrichte bis zu 128 Schüler*innen – jedes Schuljahr. Im Schnitt 4 Lerngruppen à 32. Wenn ich Glück habe sind es weniger, zu viele sind es immer. Zu viele für die zu kleinen Räume. Zu viele für die wenige Zeit. Und dann sind sie alle auch noch entweder kurz vor, schlimmstenfalls mitten in, oder kurz nach der Pubertät. Bis zu 4 Schulstunden die Woche stehe ich vor Ihnen. Ich entscheide im Sekundentakt und bin danach leer. Sie haben Zeit und schauen mich an. Was sie in der Zeit wohl machen? Hören sie zu? Schalten sie ab? Warten sie auf das Ende? Lernen sie etwas?

Was müssten sie eigentlich tun, damit ich meine Arbeit erfolgreich nennen kann? Gute Noten schreiben? Sicher nicht! Sich nicht gestört von mir fühlen? Manchmal bestimmt! Sich wohl fühlen, sich gesehen fühlen. Das wäre schön! Aber 128? Wohl eher nicht.

Ich habe mir eine pragmatische Quote zugelegt: eine*r pro Lerngruppe. Eine Person pro Lerngruppe pro Schuljahr, die auf die Schulzeit zurückblickt und sich, trotz all der Systemfehler, (positiv) an mich und meinen Unterricht erinnert. Wenn ich bis zum Renteneintritt hochrechne, komme ich auf eine respektable Zahl, die mich beruhigt. Falls ich es schaffe, kann ich sagen: immerhin. Mehr irgendwie auch nicht, es müssten bestenfalls ja alle sein, aber wie soll das gehen, wenn es schon in der Ausbildung hieß, man solle gar nicht erst versuchen, allen gerecht zu werden. Hm. Ok. Aber was soll das dann eigentlich alles?

Und dann kommt die Mail von Emre: er sei nun Vater und außerdem Lehrer und sei viel gereist – genau, wie ich es ihm geraten hatte. Und dann treffe ich Tabor, der mich umarmt und sich freut wie ein kleines Kind, mich zu sehen. Und dann ist da Paula, deren Freundin ein Kind will und mich um Rat fragt. Und Ella und Eda und Cem und und und… Und es werden immer mehr. Meine große Stadt füllt sich mit Menschen, die mir, fernab des Systems ein Lächeln entgegnen, das mein Herz springen lässt. Diese Begegnungen stärken mein Vertrauen in meine Arbeit und so gehe ich am nächsten Tag wieder dorthin – in der Hoffnung, neue zukünftige Ehemalige kennenzulernen und in der Hoffnung, dass ich die Kraft haben werde, dem System auch noch die nächsten 30 Jahre den ein oder anderen Lichtblick abzutrotzen.


Barbara, Lehrerin, Berlin

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